Engagement als Schlüsselkompetenz konsequent fördern: Civic Competencies 2.0

Die Idee der aktiven Bürgerschaft hat im Laufe der letzten Jahrzehnte überall in Europa an Einfluss gewonnen. Das Bild der Bürgerin und des Bürgers hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt. Der „mündige Bürger“ ist heute Mainstream. Aber die von diesen Engagierten geschaffene Zivilgesellschaft ist in Transformation begriffen. Zum Einen ist unsere Gesellschaft komplexer geworden und zivilgesellschaftliche Organisationen stehen den Entwicklungen oft reaktiv gegenüber. Zum Anderen muss die Zivilgesellschaft in Zukunft auch diejenigen mehr einbeziehen, die nicht zu den „üblichen Verdächtigen“ des organisierten Bürgersinns gehören: Jugendliche, Migrantinnen und Migranten, Menschen unterschiedlicher Bildunggrade. Dies ist eine elementare Bildungsaufgabe, die mehr mit dem Begriff der Engagement-Kompetenz als mit dem Wort „politische Bildung“ beschreibbar ist. Damit ist die Fähigkleit der Einzelnen, sich aktiv, eigenverantwortlich und erfolgreich öffentlich einzubringen, beschrieben.

Die Feststellung der durch mehr Engagement-Kompetenzbildung gefüllten Engagement-Lücke müsste in Europa eigentlich mindestens eine solche Reaktion hervorrufen wie der „Skill-Mismatch“ (Jugendliche lernen immer mehr, aber im Beruf wird noch mehr von ihnen verlangt) oder der „PISA-Schock“. Denn viele Bürgerinnen und Bürger (nicht nur Juigendliche als die Schwächsten in Europas demographischen Gefüge) drohen heute den Glauben an die demokratische Bürgergesellschaft zu verlieren.

Fortschrittsmotor Partizipation

Lange galt als fortschrittlich, was Bundespräsident Theodor-Heuss über den aktiven Bürger dachte:

„In solchem Sinn ist die Durchsetzung und Gliederung der Nation durch die vielfältigen Selbstverwaltungen nicht nur ein System zur Erweckung des Gemeinsinns, der an das Nahe, Kleine sich bindet, um dadurch in das Große zu wirken, sondern sie ist auch das Werkzeug der Auslese, die von unten nach oben drängt und den sozialen Kreislauf mit immer neuen Kräften stärkt und erhält.“

Theodor Heuss: Staat und Volk; Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur; Berlin 1926; S. 146

Die Bürgergesellschaft existiere in einem System der Entwicklung von „Gemeinsinn“. Sie liefere dem politischen System die notwendigen „neuen Kräfte“ und erhalte somit das demokratische Gemeinwesen als eine Art Rohstofflieferant für Institutionenvertrauen und Innovation. Am Ende stehe aber eine Art demokratische Oligarchie, die teils aus der Politik, teils aus den wichtigen Kräften dieses engagierten Bürgertums besteht. Letztentscheidungskompetenz hat aber nach Heuss jederzeit die Politik.

Nach Jahrzehnten, die den Staaten in West und Ost deutlich machten, dass Einmischung, Gegenöffentlichkeit, ja auch Protest, zu mehr Beteiligung führen, nach der Entdeckung des „mündigen Bürgers“ in den 1960er Jahren, beschreibt 2002 die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestags die Rolle und Funktion des Bürgers anders:

„Bürgergesellschaft beschreibt ein Gemeinwesen, in dem die Bürgerinnen und Bürger auf der Basis gesicherter Grundrechte und im Rahmen einer politisch verfassten Demokratie durch das Engagement in selbstorganisierten Vereinigungen und durch die Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten die Geschicke des Gemeinwesens wesentlich prägen können.“
Deutscher Bundestag

Erfolgreiches Engagement in der Gesellschaft hängt von der Kompetenz der Einzelnen ab und inwieweit Zivilgesellschaft und Bildung den mündigen Bügrerinnen und Bürgern einen Rahmen eröffnen, in dem sie erfolgreich, im Sinne ihrer Vision und in Gemeinschaft mit anderen handeln können.

Wesentlich prägen – selbstorganisiert und über Beteiligungsmechanismen und Dialoge an den Schnittstellen zwischen Zivilgesellschaft und Staat – das ist im Wesentlichen die neue Programmatik. Bürger sind hier nicht mehr nur Unterstützer, sie sind Partner des Staats. An manchen Stellen ist der Staat in der Bringschuld – Transparenz, Schaffung von Beteiligungsmöglichkeiten. Oft nimmt er sich zurück, „Moderation“ und „Deliberation“ ersetzen die Staatsraison von früher.

Systemrelevanz aktiver Bürgerinnen und Bürger

Auch auf europäischer Ebene ist die Wertschätzung für den aktiven Bürger gewachsen. In „die Zivilgesellschaft“ als die Sphäre der bürgerschaftlichen Selbstorganisation werden viele Hoffnungen gesetzt. Insgesamt zeigt die Politik mehr und mehr Eigeninteresse an funktionierenden Nichtregierungsorganisationen und an aktiven Bürgern. Man möchte Bürger an die staatlichen Strukturen heranführen, als Gegengewicht gegen ökonomischen Lobbyismus fördern, als Experten der Rede und Gegenrede in der Risikogesellschaft nutzen, als Nukleus gesellschaftlicher Solidarität oder Träger von demokratischen Werten erhalten. Nicht nur aus Idealismus, auch um dem schwächer werdenden Wohlfahrtsstaat beim weiteren Funktionieren behilflich zu sein. Wie man das auch bewerten mag – insgesamt gibt es mehr Wertschätzung für bürgerschaftliches Engagement und mehr Bereitschaft die eigenverantwortliche Selbstorganisation von Bürgern zu unterstützen.

Dort wo es politisch und/oder regierungsseitig zunehmendes Misstrauen oder Kritik an Bürgerengagement gibt, spürt man, dass man die Zeit nicht einfach zurückdrehen kann. Wer sich einmal emanzipiert hat, lässt sich nicht so einfach den Mund verbieten, links wie rechts, in der Mitte und an den Extremen im politischen Spektrum. Hinzu kommt, dass die großen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – Internet und Globalisierung – hier sowohl inklusiv als auch fragmentierend zu wirken scheinen, mit weitreichenden Konsequenzen für die Beteiligung aktiver Bürger.

Kerninhalte eines modernen Civic Competence Curriculums

Insbesondere der politischen Bildung bzw. der Civic Education kommt hierbei eine wichtige Rolle zu. Weil die Bürgergesellschaft sich offenkundig in einem Transformationsprozess befindet, an dessen Ende sie ihrer gestiegenen systemischen Relevanz entsprechend demokratisch und handlungsfähig sein sollte, kann Active Citizenship Education sie auf individueller, Gruppen und Institutionsebene unterstützen, dass dieser Wandel bewusst, demokratisch und inklusiv gestaltet werde.

Bildungsangebote können…

  • Wertschätzend und an den individuellen Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger arbeiten, die Eigeninitiative unterstützen und die Lernenden befähigen, ihre eigene Vision zu entdecken und zu beschreiben.
  • Für Klarheit und mehr Wirkung sorgen, indem sie Einzelnen und Gruppen die Sicht auf systemische Zusammenhänge ermöglichen, um ihr Handeln und ihre Wirkung im großen Ganzen der Gesellschaft zu beschreiben.
  • Fairness und Transparenz in der Zivilgesellschaft fördern, indem sie demokratische Prinzipien und Beteiligung in der konkreten Engagementpraxis thematisieren. Gerade auch, indem die demokratische Haltung (attitude) des Einzelnen in den Fokus der Bildung rückt.
  • Robuste Zivilität (T. Garton Ash) als Bedingung demokratischer Öffentlichkeit entwickeln helfen. Auch unter herausfordernden Bedingungen müssen Bürger couragiert in der Lage sein, friedlich über konfliktäre Angelegenheiten zu reden und zu entscheiden und politische Feindschaft ohne Rückgriff auf das staatliche Gewaltmonopol in pazifierte Gegnerschaft transformieren können.
  • Den Dialog über System- und soziale Grenzen hinweg unter zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren anregen. Sie können helfen, neue Koalitionen zu schmieden und damit überbrückendes soziales Kapital zu generieren und Bedingungen für demokratische soziale Innovation schaffen.
  • Bürgerinnen und Bürgern helfen, digital kompetent zu sein: Sich Kommunikationstechnologie proaktiv anzueignen, Informationen kritisch zu verarbeiten und Digitalisierung der Gesellschaft mitzugestalten.

Engagement als Kompetenz

Eine bildungstheoretische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne ist die Idee von Lernen als etwas, das die Kompetenzen des Einzelnen stärken soll. Kompetenzen bezeichnen die Fähigkeiten der Einzelnen zum Handeln, die sich aus dem Zusammenspiel ihres Wissens, ihrer Haltungen und ihrer praktischen Fertigkeiten ergeben.

Lernen umfasst nach dieser Idee nicht nur das klassisch gepaukte Wissen über einen Themenkomplex, sondern auch Erfahrungen, Emotionen, Haltungen oder methodische Fähigkeiten. Diese Lernaspekte helfen Menschen, ihre Handlungsfähigkeit in und für komplexe Situationen zu entwickeln. Hier geht es zuvörderst um universelle Fähigkeiten wie Eigenverantwortung, Selbststeuerung, Initiative oder das Identifizieren von Lösungswegen und das angemessene Beschreiten derselben. Aber auch um das bewusste Aneignen von Werten und Einstellungen und die Anpassung des Handelns als Konsequenz dieser Bewusstwerdung.

Auf die Rolle als Bürgerin oder Bürger bezogen bedeutete eine solche Idee kompetenzbasierten Lernens, dass Bildunsgangebote die allgemeine Handlungsfähigkeit der Lernenden als aktive Bürger unterstützen. Sie verknüpfen verschiedene Handlungen und Lerngelegenheiten in Ehrenamt, Beruf oder Schule und legen Wert auf die Transferfähigkeit des erworbenen Wissens in möglichst viele Lebensbereiche. Hier spricht man auch von Schlüsselkompetenzen (oder key competencies bzw. transversal competencies).

Ein Beispiel für das Mainstreaming dieser Idee ist das auf EU-Ebene 2006 verabschiedete Modell der acht Key Competencies for Lifelong Learning. Auch die Vorstellung des lebenslangen Lernens um in der Wissensgesellschaft zu bestehen, ist ein in den 60er Jahren in Ost und West in Angriff genommenes Meta-Projekt. Die Idee ist hier, das systemische Denken der Bürger zu fördern und sie für den Nachvollzug und das Mitgestalten komplexer Abläufe und Prozesse zu qualifizieren – in Betrieb, Schule aber auch im Staat. Diese schon gereiften Konzepte der Bildungsmodernisierung scheinen relevanter denn je zu sein. Ihre nur halbherzig implementierten Teile müssen sich nun unter den neuen Bedingungen beweisen.

Employability schlägt Engagement-Kompetenz

Die Idee der Engagement-Kompetenz gehört leider zu diesen sträflich vernachlässigten Teilen. In Zeichen von Radikalisierung, Jugendarbeitslosigkeit, dem Verlust etablierter Institutionen an Bindungskraftfür die Jugend gerät man heute politisch in Aktionismus. Man kultiviert einen instrumentellen Blick auf Bildung als PISA-Maschine, Antiradikalisierungstool oder Arbeitslosigkeitsverhinderungsmaßnahme. Aber kann das gelingen? Schließlich wäre es vermessen, anzunehmen, die Jugendlichen heute könnten sich die  Arbeitsplätze selber schaffen, die in Europa stetig abgebaut werden. Dazu bedarf es anderer, wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Kapitals.

Und wenn man diesen Gedanken weiterspinnt: Was überhaupt hilft Menschen mit Unsicherheit, Ambiguität und dem Wunsch nach Selbstwirksamkeit unter diesen Umständen umzugehen? Es ist wohl die Gemeinschaft mit anderen, das Kennenlernen neuer Möglichkeiten oder der Erwerb von sozialen und kulturellen Kapital, wenn schon das ökonomische nicht mehr im Überfluss vorhanden zu sein scheint.

Ist aber unter diesen Bedingungen nicht Civic Competence die Kernkompetenz eines demokratischen Gemeinwesens? Glaubt man, man bekäme eine demokratische Zivilgesellschaft, wenn man diese nicht gezielt fördert? Die Feinde der Demokratie haben jedenfalls ihre Chance erkannt und bieten Gemeinschaft und Anerkennung. Wir können attraktiver sein als sie, wenn wir mit dem Empowerment der Jugend ernst machen und sie so endlich ernster nehmen.

  • Dies ist eine leicht abgewandelte Version eines ursprünglich im April 2017 auf EPALE erschienenen Beitrags