Die multilaterale Regierungsübereinkunft als Alternative zu EU-Ratsentscheidungen: eine kreative Antwort auf die populistischen Regierungen?

Die polnischen und ungarischen Regierungen haben sehr zum Verdruss der Mehrheit der Europäer bislang ohne große Konsequenzen an der Einschränkung ihrer Rechtsstaatlichkeit arbeiten können.

Zwei Dinge legitimieren dies aus ihrer Sicht. Erstens: Uns kann keiner was, solange sich ein Komplize findet, der Sanktionierungen durch die europäischen Institutionen blockiert.

Zweitens: Wir wollen das ja nicht, aber die Verhältnisse zwingen uns dazu. Korrupte Richter, Flüchtlinge, alte Seilschaften… Im Stile konservativer Revolutionäre bemächtigen sie sich der Denkfigur des Ausnahmezustands. Um fundamentale Werte wie „Souveränität“ oder „Recht und Gerechtigkeit“ herzustellen, müsse ihrer Ansicht nach am Rechtsstaat gehobelt werden. Man dürfe das, weil man berufen ist und den Volkswillen spüre und exekutiere. Frei nach Karl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Mehr über die Denkfigur in einem anderen Artikel.

Aus Sicht der populistischen Regierungen war das bislang relativ gut möglich, weil es auf europäischer Ebene wenig Handhabe gibt und gleichzeitig kein Interesse an Eskalation und Feindschaft. Leute wie Kaczynski, Orban oder Salvini konnten vor diesem Hintergrund dosiert eskalieren und dank ihrer Verbündeten die Eskalation im Europäischen Rat auch kontrollieren.

Lässt sich das Einstimmigkeitsprinzip ausnahmsweise brechen?

Aber was wäre, wenn auch die Mehrheit der europäischen Staaten ihre legalistische strikt vertragstreue Haltung überdenken würde? Wenn sie sich etwa zum ausnahmsweisen Bruch des Einstimmigkeitsprinzips selbst ermächtigen würden? Etwa, wenn man in großer Geschlossenheit erklären würde, dass die in den Verträgen beschriebene Einstimmigkeit des Europäischen Rats zwar wichtig sei, aber man im Angesicht großer Krisen „ausnahmsweise“ zu breiten Mehrheitsentscheidungen greifen müsse, um Schlimmes zu verhindern, das durch Nicht-Entscheidenkönnen die Folge wäre.

Präzedenzfall Grundrechtecharta?

Dass diese Möglichkeit zumindest experimentell besteht, hat uns vor ein paar Tagen der österreichische Justizminister vor Augen geführt und alle haben mitgemacht. Konkret ging es darum, dass der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro die Verabschiedung eines Beschlusses zur EU Grundrechtecharta blockiert hat, weil wie immer Einstimmigkeit vorausgesetzt wurde.

Was ist dann passiert? Österreich als Ratsvorsitz hat eine Erklärung herausgegeben, der sich alle Länder außer Polen angeschlossen haben. Das war neu. Der österreichische Minister Josef Moser sagte, so habe „der Rat sich mit Ausnahme im Wesentlichen der Stimme von Polen zu den Grundrechten bekannt“. Im EU-Protokoll heißt das: „However, the Presidency concluded that the text annexed was supported or not objected to by 27 delegations:“ Was bedeutet das eigentlich? Zumindest wurde dem üblichen Europäischen Ratsbeschlusses damit eine Art europäische multilaterale Regierungsübereinkunft beigestellt.

Gut möglich, dass die frustrierte Mehrheit im Europäischen Rat das in Zukunft etwas austesten möchte. Man kann mit Spannung schauen, ob die aus der Not des deadlocks geborene Kreativität der anderen Staaten über diesen Einzelfall hinaus anhält.

Den Vertrag brechen, um die EU-Handlungsfähigkeit zu retten?

Es wäre interessant zu sehen, wie die Apologeten des Ausnahmezustands ihre Opferrolle rechtfertigen, wenn auf ähnliche Weise auch harte Entscheidungen an ihnen vorbei oder sogar gegen sie getroffen werden.

Doch Vorsicht, wenn die Mitglieder des Europäischen Rats dezisionistische Kreativität entwickeln, schwächen sie diesen als Organ und sie beschädigen die europäische Rechtskultur. Warum sollte man dann in Zukunft noch EU-Kommissionsrichtlinien in nationales Recht umsetzen, wenn selbst eins der europäischen Organe sich nicht an die Verträge hält?

Andererseits droht die EU im Schwitzkasten der Populisten tatsächlich handlungsunfähig zu werden. In diesem Sinne kann es legitim sein, dass man sich politisch aus diesem Schwitzkasten befreit, wenn die Probleme die Funktionsweise der EU insgesamt zu beeinträchtigen drohen. Nur: Wann ist dieser Punkt erreicht und wer stellt ihn fest?

So sehr man sich über gewonnene politische Handlungsfähigkeit freuen würde, so sehr muss man sich sorgen, ob der Preis dafür nicht zu teuer wäre. Was sind die Alternativen?