NGOs und Unternehmen als Lernorte für Demokratie

Im Zuge der partizipativen Revolution, der sozialen und ökonomischen Deregulierung, dem Aufkommen neuer sozialer Bewegungen und dem damit verbundenen Aufstieg der Zivilgesellschaft zu einem wesentlichen Akteur in gesellschaftlichen Diskursen und Entscheidungsprozessen hat sich die Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft neu justiert. An der Schnittstelle zwischen beiden wurden Beteiligungsmöglichkeiten immer weiter ausgeweitet oder es wurden Verfahren zur Deliberation und Mediation entwickelt. Auch die Bürgergesellschaft selber ist in Bewegung geraten. Neue soziale Bewegungen, Netzwerke, Projektarbeit, Social Entrepreneurs, die Commons-Bewegung, das Drängen bislang nicht repräsentierter sozialer Gruppen an die Öffentlichkeit oder auch die verstärkte internationale  Kooperation veränderten Organisationen und die Haltung der Beteiligten in Verwaltung, Zivilgesellschaft oder Politik zu Bürgerbeteiligung. Die großen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – Internet und Globalisierung – scheinen hier sowohl inklusiv als auch fragmentierend zu wirken, mit weit reichenden Konsequenzen für die Beteiligung aktiver Bürgerinnen und Bürger.

So ist die Zivilgesellschaft, vertreten durch ihre Organisationen heutzutage wichtiger denn je für das große Ganze. Andererseits ist sie auch mehr denn je darauf angewiesen, dass neue Bürgerinnen und Bürger den Weg ins Engagement finden. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Teile der Bevölkerung sich von der Idee des demokratischen Engagements verabschiedet zu haben scheinen, andere wiederum bislang nicht ihrer Bedeutung entsprechend in den einflussreichen Teilen organisierten Zivilgesellschaft repräsentiert sind – wie Migrantinnen oder Migranten oder Menschen mit geringem Bildungsgrad. “Engagement-Bildung” könnte hier unterstützen und bietet viele Potenziale. Allerdings verstehe ich hierunter etwas anderes als klassische politische Bildung oder das Vorstellen einzelner NGOs auf sogenannten Märkten der Möglichkeiten. Ein moderner Engagement-Bildungsbegriff setzt bei den Kompetenzen der Menschen an und begreift das Engagement selber als einen (idealerweise lebenslangen) Lernprozess.

Wenn NGOs sich selbst aus dieser “didaktischen” Perspektive reflektieren, wenn mehr Kooperation zwischen NGOs, Wirtschaft und Bildungsanbietern initiiert würde und neue kreative Programme als Ergebnis dieser Kooperation entwickelt würden, könnte Engagement-Bildung sehr viel bewirken.

Kompetenzen für Initiative und Empowerment

Nichtregierungsorganisationen, außerschulische politische Bildung und anderen Vermittlern zwischen Staat und Bürger/innen kommen wichtige Rollen zu. Die Bürgergesellschaft befindet sich offenkundig in einem Veränderungsprozess, an dessen Ende sie ihrer gestiegenen Relevanz entsprechend auch weiterhin zu einer lebendigen demokratischen Kultur beitragen soll. Diesen Wandlungsprozess kann bürgerschaftliche Bildung auf individueller, Gruppen- und Institutionsebene unterstützen, so dass dieser Wandel bewusst, demokratisch und inklusiv mit ihr gestaltet werden kann. Doch wie kann diese Unterstützung aussehen?

Orientierung auf den individuellen Kompetenzgewinn

Zunächst geht es um die Stärkung demokratischer Handlungskompetenz der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Wenn man den Begriff der Kompetenz ernst nimmt, dann steht die Fähigkeit des Einzelnen im Vordergrund, sich proaktiv, selbstbewusst, frei und gemeinsam mit anderen in öffentlichen Angelegenheiten Gehör zu verschaffen und sich in Entscheidungsprozesse über die gemeinsamen Ressourcen einzubringen. Wissen, Haltungen, methodisches Wissen und die Arbeit an den persönlichen Kompetenzen gehen hier Hand in Hand. Bildungsangebote müssen sich demzufolge daran messen lassen, ob sie aus Sicht ihrer Teilnehmenden nützlich und anwendbar sind.

Im Zentrum steht die Vorstellung, dass jeder Bürger und jede Bürgerin die Fähigkeit in sich trägt, erfolgreich zum Gemeinsamen beizutragen – sei es als Initiator/innen, als Unterstützer/innen oder als freiwillige Mitwirkende. Die Arbeit an den individuellen Kompetenzen der Menschen dient in diesem Sinne zuvörderst der Unterstützung von Eigeninitiative. Dazu gehört direkt die eigene Fähigkeit zu kreativem Handeln zu entdecken, der eigenen Vision auf die Spur zu kommen und gemeinsam mit anderen zu handeln.

Lernräume für Engagement

Ein solches Lernen wird ermöglicht, indem Räume zur Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit geschaffen werden und indem die Verbindung von persönlicher Entwicklung, gesellschaftlicher Wirkung und gemeinsame Kooperation im Verlauf reflektiert werden kann. Eine solche Förderung von Eigeninitiative ist ein Empowerment-Prozess.

Neben den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern können auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre »Beteiligungskultur« von einer solchen didaktischen Perspektive aus reflektieren und sich als einen Raum für demokratisches Lernen begreifen. Sie sind de facto ein wichtiger Raum für proaktive Bürgerinnen und Bürger und haben auch eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Sie können »Beteiligungsräume« verbessern, Demokratielernen ermöglichen und die Voraussetzungen für mehr soziale Repräsentation und Partizipation schaffen.

Innovative, unterstützende und begleitende Bildungsangebote könnten Bürgerinnen und Bürgern zum längerfristigen Engagement motivieren und damit den Organisationen ermöglichen, dass sich auch in einigen Jahren Menschen finden, die sich der Komplexität öffentlicher Beteiligungsverfahren (gerne) aussetzen. So könnten auch Anreize für neue Mitwirkende geschaffen werden, die die soziale Vielfalt der Gesellschaft repräsentieren und mit ihrer Beteiligung die institutionelle Kultur bereichern.

Kooperation

Diese neue Bildungsaufgabe kann nicht an einzelne Zuständige delegiert werden. Schulen tun das ihre, etwa indem sie zunehmend das an Schlüsselkompetenzen orientierte Lernen auch ernsthaft in ihre Bildungspraxis einfließen lassen.

Auch Hochschulen haben erkannt, dass »soft skills« und »systems thinking« möglicherweise die Schlüsselressourcen sind, die den Weg zu einer erfolgreichen Karriere eröffnen. Aber wenn »Competencies for Democratic Citizenship« sich im öffentlichen Raum als demokratisches Handeln zeigen, wird klar, dass es sich hier um eine gemeinsam geschulterte Kooperationsaufgabe handeln sollte. Denn aus der Kompetenzperspektive ist das Erlernen von Beteiligung ein lebenslanger selbständig organisierter Prozess, in dem Bürgerinnen und Bürger idealerweise möglichst viele sich ihnen offenbarende Erfahrungen, Emotionen und Wissensaspekte miteinander verbinden.

Zentral ist hier die Schlüsselkompetenz Eigeninitiative. Kooperation zwischen Zivilgesellschaft, Bildungsanbietern und der formalen Bildung könnte innovative Erfahrungsräume schaffen, die die Stärken der verschiedenen Bildungsfelder kombinieren – das formale Lernen in Schule, Ausbildung und höherer Bildung, das non-formale Lernen in außerschulischen Bildungsangeboten und das informelle Lernen in Vereinen, Initiativen, am Arbeitsplatz oder im politischen Engagement.

Die Leistung und das Potenzial der Zivilgesellschaft würde so stärker sichtbar und wirksam werden. Deshalb sollten wir nicht nur über G8 und PISA-Tests sprechen, wenn wir die Zukunft des Lernens gestalten wollen. Wagen wir mehr Kooperation zwischen formaler Bildung und den anderen maßgeblichen Akteuren in übergreifend konzipierten, gemeinsamen Lernräumen. Im Idealfall vergessen wir nicht, dass die lebendige Bürgergesellschaft vom lebenslangen Lernen abhängt. Nun können auch Unternehmen nicht nur den sogenannten »skill mismatch« beklagen. Die Idee von Schlüsselkompetenzen geht davon aus, dass junge Menschen auch in Unternehmen einen Erfahrungsraum für das Wachsen an ihren Kompetenzen vorfinden. Stärkenorientierung und Perspektiven sollten den Fokus der Diskussion bestimmen, weniger, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – vorgeblich – nicht können.

Initiative – wofür? Entrepreneurship vs. Citizenship?

Auf europäischer Ebene fällt auf, dass das Konzept der Initiative als Bildungsziel fast ausschließlich über employability, die Fähigkeit des Einzelnen in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, verhandelt wird. Im Lichte zunehmend erlahmenden demokratischen Enthusiasmus in Europa stellt sich die Frage, warum die herausragende Rolle bürgerschaftlichen Engagements für die Herausbildung sozialen Kapitals und für eine friedliche und inklusive demokratische Kultur weitgehend ignoriert wird. Wir erleben in Brüssel, wie schleichend der Begriff der demokratischen Bildung durch »education for initiative and entrepreneurship« umgedeutet wird. Beispielhaft sei nur das bislang letzte Dokument der für Bildung zuständigen Generaldirektion der Europäischen Kommission erwähnt: Strengthening European Identity through Education and Culture. In Straßburg, beim Europarat wird da etwas reflektierter auf die Engagementbildung geschaut: Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education.

Dabei weisen Kompetenzen für den Arbeitsmarkt und für das gesellschaftliche Engagement sehr große Überschneidungen auf. Dies bietet uns wiederum die Möglichkeit, gegebenenfalls vorhandene Vorbehalte zu überwinden. Beide Vorstellungen gehen von einem Menschenbild aus, das jeder und jedem die Fähigkeit zu Kreativität und Initiative zubilligt. Beide wollen die Äußerung dieser den Menschen eigenen Kreativität in ihrem konkreten eigenverantwortlichen und verantwortungsbewussten Handeln fördern. Beide verabschieden sich zunehmend von einem ausschließlich an persönlicher Genialität und Führungsfähigkeit orientierten Ideal und rücken die Fähigkeit zum Erreichen gemeinsamer Wirkung in Gruppen oder Teams in den Vordergrund. In beiden Sphären fordern  wissensintensive Prozesse und die Digitalisierung Lernende heraus, sich Neues anzueignen und einen selbstbewussten Umgang mit Information und Technologie zu erlernen.

Den Wandel demokratisch gestalten: Civic Competencies

Eine bildungstheoretische Antwort auf die Herausforderungen der modernen Welt ist die Förderung von Schlüsselkompetenzen, die die allgemeine Handlungsfähigkeit als aktive/r Bürger/in unterstützen. Über Rahmenwerke, Curricula und Konferenzen und einzelne non-formale Akteure hat sich eine solche Vorstellung durchsetzen können. Hier kann beispielhaft auf das OECD-Schlüsselkompetenzen-Modell verwiesen werden, oder auf die auf EU-Ebene benutzten acht Key Competencies for Lifelong Learning, die momentan überarbeitet werden oder die Vorstellung des lebenslangen Lernens. Die Idee ist, das systemische Denken der Bürger/innen zu fördern und sie für den Nachvollzug und das Mitgestalten komplexer Abläufe und Prozesse zu qualifizieren – in Betrieb, Schule aber auch in Zivilgesellschaft und Staat. Diese schon gereiften Konzepte der Bildungsmodernisierung scheinen relevanter denn je zu sein. Leider ist es noch nicht gelungen, das Säulendenken in der Bildungslandschaft zu überwinden. Wenn Bildungspolitiker/innen über Lernen sprechen, meinen sie nicht selten lediglich das Lernen in der Schule oder Berufsschule.

Dabei haben Zivilgesellschaft und andere Anbieter der Erwachsenenbildung (zu denen zunehmend auch zivilgesellschaftliche Organisationen gehören) wesentliche Beiträge zum Kompetenzgewinn der Bevölkerung geleistet. Der Gedanke, neue Bildungsräume zu schaffen und Kooperation zwischen ihnen in lebenslanger Perspektive zu fördern, ist nicht neu, wird praktisch auch umgesetzt, aber oft unbewusst oder halbherzig und jenseits der politisch gesetzten Bildungsstrategien. Neben Lobbyarbeit können hierbei Projekte wie Competendo helfen, die diesen Gedanken in Handbüchern, Tools und Konzepten weiter entwickeln und eine offene Plattform angesiedelt zwischen Theorie, Bildungsanbietern und Zivilgesellschaft bieten.

Die Erfahrungsräume für Initiative finden wir in freiwilligem Engagement in Organisationen und Initiativen, im Beruf oder in Parteien. Es kommt darauf an, das Potenzial zu sehen, das sich durch ihre Verknüpfung bietet. So können sich Möglichkeiten eröffnen, die Idee des Engagements und der Beteiligung weiter zu popularisieren und zu vertiefen –und damit unsere demokratische Kultur insgesamt widerstandsfähiger zu machen.