Mehr Zivilgesellschaft – Vertrauen in die digitale Transformation

Vertrauen der Bürger*innen in ihren Nutzen und in ihre gute Absichten ist eine entscheidende Voraussetzung für die Akzeptanz digitaler Infrastrukturen, Plattformen, Angebote oder partizipativer Prozese. Obwohl die Öffentlichkeit den Anbieterfirmen und der Autorität von Politiker*innen und wissenschaftlichen Expert*innen insgesamt zu vertrauen scheint, gibt es auch Gründe für eine stärkere Beteiligung der Bürger*innen an digitaler Governance. Denn für Einzelne stellt sich tieferes Vertrauen in Technologie in einer gesunden Balance aus Zuversicht und Gelegenheiten zum Falsifizieren von Misstrauen ein. Allerdings zeigen verschiedene Leaks, Datenschutzverletzungen oder Skandale, mitverursacht durch mangelnde staatliche Regulierung und zu weiche Selbstverwaltung im privaten Sektor, die Herausforderungen, die sich aus einem Mangel an Governance ergeben. Wenn aber als vertrauenswürdig geltende Institutionen die in sie gesetzten Erwartungen dauerhaft nicht erfüllen, kann in der Folge eine grundsätzlich vertrauensvolle Haltung in kategorisches Misstrauen umschlagen. Um dies zu vermeiden und in Anbetracht der durch die Digitalisierung verursachten Risiken brauchen wir eine kritischer Betrachtung standhaltende und vertrauenswürdige Governance des Digitalen mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung.


Wer sollte aus Bürger*innensicht Verantwortung in solchen Governancestrukturen tragen? Während sich die Menschen in den 1980er Jahren vor dem „Computerstaat“ fürchteten, fürchten sie jetzt Big-Data-Plattformen. „In der EU-27 will mehr als einer von fünf Befragten (23 %) keine dieser Daten mit der öffentlichen Verwaltung teilen, und 41 % wollen diese Daten nicht mit privaten Unternehmen teilen“ (FRA, 2020). Die Tech-Lobby ist laut dem Portal lobbyfacts.eu eine der aktivsten in Brüssel (allein der Dachverband Digitaleurope hat 14 Lobbyist*innen und Google hatte 2018 allein 230 Treffen mit der Europäischen Kommission). Doch die Forderungen nach ihrer Regulierung oder Domestizierung nach demokratischen Grundsätzen reißen nicht ab. Dazu benötigen wir neue oder anders aufgestellte Institutionen.

Institutionen mit begründeter Glaubwürdigkeit. Paradoxerweise ermöglichen vertrauenswürdige Institutionen Menschen gerade dann, Vertrauen in diese Organisationen oder in andere Menschen zu entwickeln, wenn sie gleichzeitig auch einen Raum für kritisches Denken (oder ein gesundes Maß an Misstrauen) bieten. Vertrauensstiftende und ethisch handelnde Institutionen. In modernen Gesellschaften versetzen sich Menschen über Institutionen in die Lage, Fremden zu vertrauen, was eine Grundvoraussetzung für große Demokratien ist. Institutionen dienen als Raum für Ausgleich (oder als Vermittlerinnen) zwischen unterschiedlichen Menschen und Interessen. Organisationen bieten Bürger*innen einen Ort, in dem sie ihr gemeinsames Interesse entlang des den Organisationen eingeschriebenen Zwecks und ermöglicht durch die ihnen zugeschriebene Glaubwürdigkeit erfahren und entwickeln können: „Es ist diese implizite normative Bedeutung von Institutionen und die moralische Plausibilität, von der ich annehme, dass sie für andere gilt, die es mir erlaubt, denjenigen zu vertrauen, die an denselben Institutionen beteiligt sind – obwohl sie mir fremd sind und ich sie nicht persönlich kenne“ (Offe, 1999, S. 70).


Wem vertrauen wir?

Eine Studie der EU-Grundrechteagentur hat ergeben, dass 55 % der EU-Bürger*innen befürchten, dass Kriminelle Zugang zu ihren persönlichen Daten erhalten. Etwa ein Drittel hat Bedenken gegenüber Werbetreibenden (31 %) und ausländischen Regierungen (30 %). Rund ein Viertel der Befragten ist skeptisch gegenüber den Geheimdiensten (26 %) und Regierungen ihres Landes (20 %). 17 % haben Bedenken gegenüber Strafverfolgungsbehörden und Arbeitgeber*innen (FRA, 2020).

Infographics: Degree of concerns regarding personal data (EU FRA Survey)

In Bezug auf Technologieunternehmen stellt sich die Frage, wie man scheinbar nicht existierenden Institutionen vertrauen kann. Es ist ja oft nicht möglich, konkrete Personen zu treffen oder mit ihnen zu sprechen, und die Unternehmen und Anbieter investieren nicht in mehr Transparenz, Verantwortung und Rechenschaftspflicht. Anstatt im Austausch mit einer Vermittlungsinstanz müssen Bürger*innen ihr Vertrauen aus einem allgemeinen Glauben an die Angemessenheit und Zuverlässigkeit von Technologiesystemen schöpfen. „Wenn das aufgezeichnete Individuum in den Vordergrund getreten ist, ist das aufzeichnende Individuum in den Hintergrund getreten, wahrscheinlich bis hin zu seinem Verschwinden“ (Fourcade/Healy, 2017, S. 11).


Edelman Trust Barometer 2020. NGOs:

Das Edelman Trust Barometer zeigt: Gerade im ethischen Bereich wird die Zivilgesellschaft als sehr glaubwürdig und vertrauenswürdig wahrgenommen, während Unternehmen als kompetent erscheinen. Die Herausforderung für Staat, Medien und die Zivilgesellschaft bestünde daher darin, mehr Digitalisierungskompetenz zu erlangen und insbesondere für die Zivilgesellschaft, ethische und fundierte Positionen in die Debatten, Vorschriften und die Governance einzubringen. (Edelman Trust Barometer 2020: S. 20).


Digitale Kompetenz von unabhängigen Organisationen ausweiten

Da die digitale Sphäre Menschen in sehr unterschiedlichen Rollen als Produzentinnen von Daten und Inhalten, als Verbraucher*innen, Arbeitnehmer*innen oder als (digital) zivilgesellschaftlich engagierte Bürger*innen betrifft, müssen gerade auch NGOs, die „digital“ nicht in ihrem Namen tragen, das Digitale immer mehr als selbstverständliches Handlungsfeld anerkennen und ihre digitale Mitgestaltungskompetenz ausbauen.

Das Digital Market Act/Digital Services Act-Paket der EU sieht beispielsweise die wichtige Rolle von Trusted Flaggers für die Kontrolle von Plattformen vor. Organisationen, die als solche angesehen werden, können auf Rechtsverstöße auf Plattformen aufmerksam machen und ihre Meldungen werden prioritär behandelt. So unterstützt insbesondere Zivilgesellschaft (häufig im Namen vulnerabler Gruppen) die Aufsicht und Selbstkontrolle der Plattformen. Weitere Möglichkeiten zur Verbesserung von Kontrolle, Regulierung oder Rechenschaftslegung im Digitalen könnten die aktuell diskutierten Plattformräte sein. Auch Public-Civic Partnership gewinnt an Bedeutung und dieser Bedeutungsgewinn könnte sich in besserer Zusammenarbeit (etwa bei der Begleitung von Smart Cities oder der Erschließung öffentlicher Daten für gemeinnützige Zwecke) oder in hybriden Organisationen widerspiegeln (warum z. B. nicht vom Erfolg der Stiftung Warentest lernen – und mit einer Stiftung Datenschutz unabhängig und breit über digitale Angebote und Produkte informieren?).

Jedoch – um hier besser mitwirken zu können, benötigt Zivilgesellschaft die notwendigen Ressourcen, beziehungsweise muss diese im ungleichen Wettbewerb mit Industrie und Forschung aufbauen. Der Ansatz führt aber auf jeden Fall in die richtige Richtung und zeigt, dass digital kompetente Zivilgesellschaft immer mehr als Teil der kritischen Infrastruktur in einer post-digitalen Gesellschaft angesehen werden muss.

Die EU-Grundrechteagentur weist – in Bezug auf die Überwachung und Steuerung von Gesichtserkennungstechnologien – auf die Wichtigkeit von unabhängige Stellen hin, die sich zuvorderst den Grundrechten verpflichtet fühlen: „Ein wichtiges Mittel zur Förderung der Einhaltung der Grundrechte ist die Überwachung durch unabhängige Stellen“ (FRA, 2019, S. 21). Dies würde die strukturierte Beteiligung von mehr Zivilgesellschaft in Gremien, Schlichtungsstellen, Entscheidungs- oder Regelsetzungsprozesse implizieren.

Mehr sektorübergreifende Repräsentation und mehr Pluralismus in Regulierung, Aufsicht und Standardsetzung des Digitalen würde zudem besser unterschiedliche Perspektiven in der Gesellschaft integrieren und moderieren.


Referenzen

Edelman Trust Barometer 2020 (2020).

European Union Agency for Fundamental Rights (EU-FRA 2019). Facial recognition technology: fundamental rights considerations in the context of law enforcement; Luxembourg: Publications Office of the European Union. https://doi.org/10.2811/52597

European Union Agency for Fundamental Rights (FRA 2020). Your rights matter: Data protection and privacy – Fundamental Rights Survey. Luxembourg: Publications Office of the European Union, 2020. https://doi.org/10.2811/292617

Fourcade, M.; Healy, K. (2017). Seeing like a market. Socio-Economic Review, Volume 15, Issue 1, January 2017, Pages 9–29, https://doi.org/10.1093/ser/mww033

Offe, C. (1999). How can we trust our fellow citizens? In Warren, Mark E. (ed.).
Democracy and Trust. Cambridge: Cambridge UP, 1999: 42-873




Activism & Participation – Digital Transformation in Learning for Active Citizenship

Cover Guide: Activism & Participation

Dieser Text wurde im Rahmen des Projekts DIGIT-AL – Digital Transformation Adult Learning for Active Citizenship veröffentlicht und geringfügig ergänzt.

Elisa Rapetti und Ricardo Vieira Caldas: Activism and Participation (2020). Teil des Readers: Smart City, Smart Teaching: Understanding Digital Transformation in Teaching and Learning. DARE Blue Lines, Democracy and Human Rights Education in Europe, Brüssel 2020.

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