Interview mit M. Becker: Dem kodierten und impliziten Antisemitismus auf der Spur

Europäische Forschungsperspektiven für die politische Bildung.

Das Projekt „Decoding Antisemitism“ am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin untersuchte Online-Antisemitismus in Europa mit dem Fokus auf Großbritannien, Frankreich und Deutschland. In den Analysezeitraum fiel der 7. Oktober 2023. Was konnten die Forscher*innen beobachten? Ein Gespräch mit dem Projektleiter Dr. Matthias J. Becker.

Erschienen in: Außerschulische Bildung Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, 02/2025, Rechtsterrorismus in Deutschland, S. 52-55

Was war Ihr Ziel mit dem Projekt Decoding Antisemitism?

Wir wollten Antisemitismus mit verschiedenen Herangehensweisen, interdisziplinär und international untersuchen. Also eben nicht – wie wir es aus der Linguistik und Geschichte oft kennen – nur qualitativ die antisemitische Rhetorik im Detail anschauen oder, im Gegensatz dazu, rein quantitativ arbeiten und lediglich bestimmte problematische Wörter in einem Kommunikationsraum auszählen. Mit nur einer Methode kommen wir letzten Endes nicht wirklich weit.

Antisemitismus ist eine Hassideologie, die sich aus so vielen Konzepten zusammensetzt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tabuisiert wurde, zumindest in Teilen Europas. Es geht dabei nicht nur um die Vorstellung, dass Juden gierig seien oder Macht hätten oder Kinder umbringen würden. Auch diese ganzen historischen Analogien in Bezug auf den jüdischen Staat werden nicht immer eins zu eins reproduziert. Es gibt ein weites Spektrum an subtilen, impliziten und kodierten Formen des Antisemitismus. Das Decoding Antisemitism-Projekt hatte daher zum Ziel, zunächst Geistes- und Sozialwissenschaften zu vereinen, um eine Taxonomie des Antisemitismus zu erarbeiten – dabei sollten auch politisch moderate Kontexte berücksichtigt werden, wie etwa die sozialen Medien des politischen Mainstreams. Unser Ansatz bestand darin, die Expertise eines vielfältigen, interdisziplinären Forscher-Teams mit dem Bereich der Data Science zu verbinden.

Wie gelang es, diese subtilen Äußerungen und die Graustufen mit zu berücksichtigen?

Wir wollten vermeiden, dass Data Scientists mit ihren Vorannahmen darüber, wie Antisemitismus ausschaut, einfach Modelle trainieren, denen es letztlich an der nötigen Detailschärfe fehlt. Wir wussten auch, dass auf der anderen Seite qualitativ arbeitende Forscher den Social-Media-Diskurs oft nur in kleinen Ausschnitten abdecken können.

Es muss also eine Balance geben: Wir müssen tiefgehend verstehen, wodurch sich antisemitische Kommunikation heutzutage auszeichnet, und Klassifikationsmodelle müssen diese Nuancen begreifen, damit wir diese Tiefe dann auch breiter anwendbar machen können – für eine höhere Repräsentativität.
Im Projekt verfolgten wir diesen Ansatz für drei Sprachgemeinschaften: Deutsch, britisches Englisch und Französisch, über einen Zeitraum von fünf Jahren. Im Kern haben wir uns mit knapp 30 Fallstudien beschäftigt und nicht nur einfach nach Wörtern geschaut, sondern immer auch nach Diskursereignissen Ausschau gehalten.

Dr. Matthias J. Becker © Kay Herschelmann

Ein gemeinsames Ereignis, das alle Sprachgemeinschaften wahrnehmen?

Ja, das kann es sein. Es kann aber auch auf ein Land beschränkt sein, wie etwa der Skandal um den Comedian Dieudonné in Frankreich oder die „Documenta 15“ in Deutschland. Natürlich gibt es auch internationale Diskursevents wie den 7. Oktober, der Angriff auf die Ukraine oder die Pandemie.

Also haben wir uns die Social-Media-Kanäle politisch moderater Medien in diesen drei Ländern angesehen. Dabei sieht man einen unterschiedlichen Grad an Salonfähigkeit von Antisemitismus und unterschiedliche Konzepte, wie Stereotype und Analogien. Auch die Sagbarkeit ist scheinbar sehr unterschiedlich.

Abbildung: Reaktionen auf das Scheikh-Jarrah-Viertel-Verfahren 2021 und auf den 7. Oktober 2023 im Vergleich. Nach dem 7. Oktober ist in allen drei Sprachräumen (DE, FR, UK) eine Brutalisierung des antisemitischen Diskurses zu beobachten. Die Intensität zwischen den Ländern ist unterschiedlich. Quelle: Decoding Antisemitism, relative Werte

Quer durch alle 30 Fallstudien haben wir festgestellt, dass in den britischen Corpora sowohl die Häufigkeit als auch die Deutlichkeit antisemitischer Rhetorik stärker waren als in Deutschland. Großbritannien und Deutschland bildeten zwei Extreme, und Frankreich war je nach Diskursereignis eher eine Art Pendel dazwischen – mal näher an den drastischen, direkten Formen des britischen Antisemitismus, mal nicht. Das heißt natürlich nicht, dass es in Deutschland kein Problem gibt; dies bezieht sich auf den Kommunikationsraum politisch moderater Medien, in denen sich viele Menschen bedeckt hielten oder es subtil blieb, oder der Diskurs wurde in andere Plattformen getragen, die nicht moderiert werden.

Man kann diese Unterschiede nur dann herausfinden, wenn man sich zuerst qualitativ den Reaktionen der User im Detail nähert, diese genau beschreibt, eine klare Linie zieht zwischen Grauzonen und dem, was bereits kodierter Antisemitismus ist. Die Ergebnisse dieser qualitativen Inhaltsanalysen werden dann als Basis für quantitative Analysen verwendet. Das geschieht in anderen Forschungsprojekten eher andersrum: man beginnt quantitativ und schaut sich dann die Treffer qualitativ an.

Das hätte aber überhaupt nicht funktioniert, weil man im deutschen Sprachraum relativ wenig Schimpfwörter oder direkte Bezüge zu Stereotypen gefunden hätte. Aber trotzdem wurden antisemitische Vorstellungen kommuniziert, nicht auf der Wortebene, sondern über rhetorische Fragen und andere indirekte Formen.

Heißt das, sobald etwas kodiert wird, sobald es implizit wird, hat KI ihre Probleme und es kommt darauf an, dass qualitative Forschung ergänzt, in Konsequenz auch die Algorithmen darauf aufbauend modifiziert werden?

Das trifft auf jeden Fall zu. Einerseits fehlt den Modellen das notwendige Weltwissen. Ein Beispiel ist die Aussage „Jemand sollte George Soros eine ‚Dusche‘ geben.“ Mit dem richtigen historischen Wissen zum Holocaust können wir verstehen, dass hier die Gaskammern gemeint sind und dass hier ein indirekter Todeswunsch zum Ausdruck gebracht wurde. Modelle haben dieses Wissen nicht immer. Und noch schwieriger wird es mit besonders subtilen Sprechakten.

Generative KI-Modelle sind beeindruckend, aber sie erfassen viele Nuancen nicht. Ein weiteres Beispiel ist die Formulierung „Schwindlers List“, die mit Verweis auf Spielbergs Film einerseits den Holocaust mittels Wortspiel als Lüge bezeichnet, andererseits mittels „List“ einen Plan zur Ausbeutung des Holocaust unterstellt. „Hölzerne Türen?“ ist eine rhetorische Frage, die nahelegt, dass das mit den Gaskammern eigentlich gar nicht so gewesen sein kann. Verschwörungsnarrative dieser Art fußen darauf, dass die Rote Armee hölzerne Türen gefunden haben soll, die im Prinzip ja gar nicht für den Zweck beschaffen seien. Dementsprechend wird kodiert kommuniziert, dass es den Massenmord in den Gaskammern gar nicht gegeben haben kann.

Weltwissen ist ein zentraler Aspekt, aber auch das sogenannte Kontextwissen ist entscheidend. Dabei geht es nicht nur um kulturellen Kontext, sondern um den direkten sogenannten Ko-Text eines Kommentars. Wenn jemand zum Beispiel sagt: „Dieser Typ ist ein Lügner, schaut euch seinen Hintergrund an“, muss das Modell verstehen, dass sich „dieser Typ“ auf George Soros bezieht, der in einen vorherigen Kommentar oder in einer Reihe von Kommentaren genannt wurde.

Diese Querverbindungen sind bei Social-Media-Diskursen total essentiell. Ein Kommentar ruft eine Reaktion hervor, aber zwischen den beiden liegt oft eine semantische Lücke – Ellipsen und Anaphern sind hier häufig, aber bei vielen Klassifikationsmodellen fallen diese unter den Tisch.

Auch in Bildungsprozessen müssen wir antisemitische Äußerungen genauer verstehen lernen, um auf sie zu reagieren. Etwa bei der Intervention zwischen Person und Äußerung unterscheiden, genauer nachfragen, was jemand eigentlich meint, verstehen, auf wen sich eine Äußerung bezieht. Sehen Sie da Parallelen?

Ja, definitiv. Ob offline oder auf einem amerikanischen Campus – Menschen wiederholen oft Formeln, Redewendungen und Slogans, ohne die dahinterstehende inhaltliche Dimension zu verstehen. In Interviewsituationen werden dann viele nervös, weil sie die gesamte inhaltliche Dimension des Begriffs „Apartheid“, „Genozid“ oder „Holocaust“ überhaupt nicht verstanden haben.
Zum Beispiel bei der Formel „From the river to the sea“. Nach dem 7. Oktober wurden in Großbritannien, Frankreich und den USA Demonstranten gefragt, was sie damit genau meinen, welche geografische Region gemeint ist und was mit der jüdischen Bevölkerung passieren soll. Viele Leute reproduzieren jene Formeln, die sie andauernd hören und machen sich zu Trägern dieser Tropen, ohne zu verstehen, was sie bedeuten und in welche Tradition sie sich begeben. Sie schaffen Reproduktionsmuster, meist nicht immer komplett intentional. Bei jenen Journalisten oder Politikern, die kontinuierlich antisemitische Äußerungen tätigen, kann man natürlich von Intentionalität sprechen. Bei anonymen Web-Usern ist es wesentlich schwerer. Daher haben wir weniger von „Antisemiten“ gesprochen als von „antisemitischen Äußerungen“.

Sie haben auch verschiedene Begleitmaterialien entwickelt, viele auch in deutscher Sprache. Ihr Lexikon zur Identifizierung von Antisemitismus online ist zuletzt auf Englisch erschienen. Es handelt sich um ein großes Buch mit vielen Beispielen aus ihrer Arbeit, dazu frei downloadbar. Wie kam es dazu?

Im Jahr 2022, nach zahlreichen Workshops und Konferenzbesuchen, wurde uns klar, dass es sinnvoll wäre,
genauer zu beschreiben, was wir in unseren qualitativen Analysen tun und warum es wichtig ist, über Sprachgrenzen hinweg übereinzustimmen, wo die Grenze zwischen explizitem und implizitem Antisemitismus verläuft und wie wir die Grauzonen definieren können, die nicht zwangsläufig
antisemitisch sind.

Außerdem nahmen wir so viele inhaltliche, strukturelle oder sprachliche Aspekte des Antisemitismus wahr, dass wir dachten, diese nicht nur an Kollegen im Forschungsbereich weiterzugeben, sondern auch an Lehrkräfte, Influencer, Politiker und Polizisten, also alle möglichen Zielgruppen, um ihnen zu helfen, die Ergebnisse und zahlreichen Vorteile der linguistischen und bildbezogenen qualitativen Inhaltsanalyse zu verstehen.

„Lexikon“ mag zuerst einmal elaboriert und relativ aufwendig klingen – aber die Beschäftigung mit Sprache, Hassrede und Argumentationsmustern ist sehr spannend. Mit dem Lexikon zeigen wir, was wir zu 70–80 Prozent Aufwand im Projekt mit diesen Inhaltsanalysen erreicht haben. Es ist Open Access und frei zugänglich.

Was findet man im Lexikon?

Konkret stellen wir in mehr als 40 Kapiteln Beispiele aus unseren Datensätzen vor. Jedes dieser Kapitel beschreibt ein Konzept, etwa „jüdische Macht“ oder „Kindermord“ oder „Gier“ und andere. Es wird so konsistent wie möglich beschrieben, damit eben Social Media-Forscher, Content-Moderatoren und andere nachschlagen können.

Jedes Kapitel beginnt mit einem historischen Überblick, gefolgt von einer knappen Definition in Bullet Points und einem empirischen Abschnitt: Dabei zeigen wir explizite Beispiele sowie deren implizite Versionen und erklären, wie sie sich unterscheiden. Wir erläutern, welches Weltwissen und Kontextwissen erforderlich sind, um diese zu dekodieren.

Die dritte Kategorie umfasst die Grauzonen, die auch harte und aggressive Beispiele beinhalten können.
Wir haben konservativ kodiert: Wenn eine Äußerung mehrere Lesarten hat, von denen eine nicht antisemitisch ist, haben wir sie als nicht antisemitisch gelabelt, um sicherzustellen, dass unser Trainingsmaterial in der KI-Anwendung nicht zu sogenannten False Positives oder False
Negatives führt.

Für politische Bildner*innen in verschiedenen Bereichen der politischen Bildung ein tolles Nachschlagewerk. Damit geben Sie den Lesern die Möglichkeit zum schnellen Überblick über das gesamte Spektrum eines Motivs – explizit-implizit-ambivalent – nützlich auch, um einordnen zu können, was man im eigenen Bildungsraum hört …

Genau. Das Thema ist in den letzten zwei Jahren sehr aufgewühlt. Es ist wichtig, dass wir wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen, um zu verstehen, worin das gemeinsame Verständnis in der Forschung liegt. Journalisten glauben oft, dass sich die Wissenschaftler selbst nicht darüber einig sind, was Antisemitismus eigentlich ist.

Trotz der Grabenkämpfe würde ich mit diversen Kollegen in Europa und den USA mitgehen: Der Großteil antisemitischer Konzepte wird von der seriösen Mehrzahl der Forschenden ähnlich betrachtet. Streitpunkte gibt es vor allem bei den historischen Analogien im Israel-bezogenen Diskurs oder bei der Infragestellung des israelischen Existenzrechts. Aber die gesamte Palette antisemitischer Stereotype und auch die aggressiven Sprechakte, die im sechsten Teil des Buches behandelt werden, sind unstrittig.

Nur in ausgewählten Fällen wird man sich noch in zehn Jahren bei Konferenzen ordentlich angehen. Was aber eben fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der sprachlichen Ebene. Wo können wir als Lehrkräfte sagen, okay, hier sind jetzt alle Bedingungen erfüllt, dass wir das jetzt problematisieren können?

Bekommen Sie Rückmeldungen?

Es gab nicht viele Artikel in Zeitungen. Online hingegen wurde das Lexikon innerhalb der letzten drei Monate über 130.000 Mal heruntergeladen. Das ist eine korpuslinguistische Arbeit, und normalerweise verliere ich die Hälfte meines Publikums, wenn ich von Sprechakttheorie spreche. Aber die Reaktionen auf dieses Buch haben gezeigt, wie sehr es solche Leitfäden braucht. Es gibt ein Bedürfnis, diese Thematik genauer zu verstehen und sich mit den Zuordnungen sicher zu fühlen. Und dafür ist das Lexikon gedacht.

Vielen Dank für das Gespräch!


Weitere Informationen

Matthias J. Becker, Hagen Troschke, Matthew Bolton, Alexis Chapelan (2024): Decoding Antisemitism. A Guide to Identifying Antisemitism Online. Postdisciplinary Studies in
Discourse. Schweiz 2024, Palgrave Macmillan Cham.
Download

Aus dem Projekt heraus ist ein Handbuch entstanden, das explizite und kodierte Formen des Antisemitismus an über 40 antisemitische Konzepte beschreibt – von Stereotypen über Verschwörungstheorien bis hin zu israelbezogenem Antisemitismus. Es ist ein verständlicher Leitfaden und eine Einführung in die expliziten und kodierten Formen des aktuellen Antisemitismus und bietet Erkenntnisse des internationalen Forschungsprojekts, das sich mit realen Erscheinungsformen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA beschäftigte.

Von Affirmationen antisemitischer Gewalt bis Verschwörungstheorien identifizieren und kategorisieren die Autor*innen über 40 antisemitische Konzepte: Stereotype, Tropen jüdischer Macht und Einflussnahme,
Elemente des israelbezogenen Antisemitismus, Post-Holocaust-Konzepte, sowie antisemitische Sprechakte, bspw. Beschimpfungen, Drohungen oder Todeswünsche.

Jedes Kapitel enthält eine historische Einordnung und Erläuterung des jeweiligen Konzepts, eine Definition sowie Beispiele für explizite und implizite Formen. Zudem werden diese von nicht per se antisemitischen Grauzonen abgegrenzt.

Weil das Lexikon mit realen und aktuellen Beispielen arbeitet, eignet es sich sehr gut für eine um Aktualität bemühte politische Bildung. Es erklärt Kontexte, verdeutlicht das Spektrum, wie aktuell in der Mitte der Gesellschaft gesprochen wird. Das Lexikon und die anderen Produkte des Projekts Decoding Antisemitism bieten eine fundierte Analyse kodierter und impliziter Formen digitaler antisemitischer Kommunikation.