ELM Magazine: Erwachsenenbildung und zivilgesellschaftliche Organisationen: Lernorte in demokratischen Turbulenzen

Nils-Eyk Zimmermann argumentiert in seiner Kolumne, dass die Erwachsenenbildung, die sich mit Bürgerkompetenz und aktiver Bürgerschaft befasst, besser unterstützt werden sollte. Ihm zufolge spielen zivilgesellschaftliche Organisationen eine Schlüsselrolle bei der Herbeiführung eines sozialen Wandels und der Lösung von Problemen in Gesellschaften.

Als ich drei Jahre alt war, war alles stabil: 1976 gab es in Westdeutschland eine Wahlbeteiligung von 90,7 %, drei Parteien im Parlament und drei Fernsehsender. Doch unter der Oberfläche brachten etwa Bürgerinitiativen den Wandel zum Brodeln. Die Stabilität wurde dynamischer und beschrieb nun eher ein pluralistisches Gleichgewicht.

Heute fühlen viele, dass dieses Gleichgewicht gestört sei. In Deutschland ergab eine kürzlich von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführte Studie über die Einstellungen der gesellschaftlichen Mitte, dass das Vertrauen in die Medien abnimmt und das Gefühl der Machtlosigkeit zunimmt.

Besonders besorgniserregend ist der zunehmende Glaube an Verschwörungstheorien (38 % der Befragten) und wachsende populistische Einstellungen (32,6 %). Eine internationale Studie von More in Common spricht von einem Viertel bis zur Hälfte der Befragten mit einer „demokratisch ambivalenten“ Einstellung, wenn auch bei einer hohen allgemeinen Zustimmung zur Demokratie (94 %). Zur Ambivalenz gehören unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie. Die Autoren sehen derzeit eine „Diskurskrise“ gepaart mit einer „Vertrauenskrise“.


Nicht so polarisiert wie man befürchten könnte

Bei näherer Betrachtung scheint nicht alles so drastisch zu sein, wie es die Polarisierung in den sozialen Medien vermuten lässt. Nach Ansicht des Soziologen Steffen Mau fühlt das mittlere Spektrum der Bevölkerung zwar ambivalent und ist nicht immer kohärent in seinen Einstellungen, aber es sei nicht so polarisiert wie man befürchten könnte. Statt von Polarisierung spricht er von „Triggerpunkten“, die die Ränder des Meinungsspektrums radikalisieren und die von „Polarisierungsunternehmern“ gesetzt werden.

Diese Befunde unterstreichen die Bedeutung von demokratiebezogenen Lernangeboten für Erwachsene, in denen sie über ihre Einstellungen zu und mit ihren Mitbürger*innen, ihre Erwartungen an das Gemeinwesen und den Staat sowie ihre Wünsche für zukünftige Entwicklungen sprechen können. Solche Bildungsangebote müssen die Breite der Gesellschaft erreichen, auch die formal Gebildeten.

Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von demokratiebezogenen Lernangeboten für Erwachsene.

Damit wird das Konzept der Bürgerkompetenz um eine transformative Dimension erweitert: Zusammenhalt, demokratische Haltung, Systemverständnis, Partizipation und kritisches Denken werden zu systemrelevanten Einstellungen und Fähigkeiten, mit denen die Bürgerinnen und Bürger die Transformationen demokratisch bewältigen können.


Lernräume für Demokratie

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind ebenso wichtig wie demokratiebezogene Bildung. Aus pädagogischer Sicht kann man sie auch als informelle oder non-formale Räume des lebenslangen Lernens für Demokratie betrachten. Sie spielen ebenfalls eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, sozialen Wandel zu ermöglichen, das zeigten die eingangs erwähnten neuen sozialen Bewegungen bereits, wenn Probleme auf verschiedenen Ebenen einer Gesellschaft zu lösen sind oder um öffentliche Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken.

Wesentlich ist aber gerade etwas anderes: Organisationen ermöglichen Fremden, einander zu vertrauen und erzeugen so den sozialen Kitt, der eine demokratische Kultur möglich macht. Ich finde die Perspektive der Resilienzforschung an dieser Stelle sehr hilfreich.

Resilienz in sozialen Systemen ergibt sich aus einer dynamischen Wechselbeziehung zwischen Beharrungsvermögen, Anpassungsfähigkeit und Innovation.

Resilienz in sozialen Systemen ergibt sich aus einer dynamischen Wechselbeziehung zwischen Beharrungsvermögen (persistence), Anpassungsfähigkeit (adaptibility) und Erneuerung (innovation). Die heutige, zu sehr output-orientierte Sicht auf die Zivilgesellschaft hat uns blind für die Balance zwischen diesen drei Faktoren gemacht. Vor allem die einseitige Förderung von Innovation und die Forderung nach Anpassungsfähigkeit – während gleichzeitig Stabilität und Beharrungsvermögen selbstverständlich vorausgesetzt werden – hindert uns daran, dieses stabile Gleichgewicht zu erreichen. Sozialer Zusammenhalt und Vertrauen erfordern jedoch stabile Organisationen.

Mau, S. (2023). Fliegt bald alles auseinander?. Kursbuch, 59 (215), 10-24.

Krause, L-K.; Gagné, J.; Hawkins, S.; Hüsson, F. (2021). It’s Complicated. People and Their Democracy in Germany, France, Britain, Poland, and the United States. More in Common Deutschland, Robert Bosch Stiftung GmbH: Stuttgart https://www.bosch-stiftung.de/en/publication/its-complicated-people-and-their-democracy-germany-france-britain-poland-and-united

Zick, A.; Küpper, B.; Mokros, N. (2023). Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter. Verlag J.H.W. Dietz Nachf.: Bonn. https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2023