Lehren und Lernen mit digitaler Software – pädagogische und politische Kriterien.

In diesem Jahr feiern wir zehn Jahre Neuland. 2013 sprach die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel, ihren berühmt gewordenen Satz aus. Die digitale Transformation drang damals für alle immer sichtbarer in die gesellschaftliche Breite vor. Zehn Jahre Neuland heißt 2023, wir haben insgesamt mehr Digitalisierungserfahrung.

Postdigitalität

Dem Neu-Narrativ steht eine Haltung gegenüber, die anerkennt, dass Digitalisierung bereits seit Jahrzehnten Teil unseres Alltags ist. Wir leben längst in einer „neuen“ Gesellschaft, wenn wir auch heute besser verstehen, worauf ihre frühen Theoretiker wie Manuel Castells (Netzwerkgesellschaft), Nicholas Negroponte („wie Luft und Trinkwasser werden wir das Digitale nur in seiner Abwesenheit wahrnehmen, nicht in seiner Gegenwart“; Negroponte, 1998) oder Marc Weiser (der die Vision des „Ubiquitous Computing“ beschreibt, Weiser 1991) hinaus wollten. Die Transformation findet nun in der Breite verschiedener gesellschaftlicher Sektoren und Politikfelder statt: Netzausbau, Grenzregime, Fake news, Landwirtschaft, Smart Cities, Strafverfolgung, Gesundheitsdaten, Mobilität, Energie, Arbeitsplätze, Bildungsdigitalisierung, Wettbewerbspolitik…

Der Begriff „Postdigitalität“ wurde entwickelt, um die Dichotomie von analog und digital zu überwinden und lieber auf die Überlagerungen der beiden Dimensionen zu fokussieren, annehmend, dass beide einander bedingen. Wenn sich Politik, Sozialleben, Wirtschaft, Kultur und die Digitalisierung bedingen, dann müssen wir verstehen lernen, wie sich die genannten Bereiche verändern und gleichzeitig überlegen, wie wir Digitalisierung gestalten wollen. Dadurch rückt ein reflexiver Blick auf Technologie, die Frage nach ihren sozialen kulturellen und wirtschaftlichen Zielen und Auswirkungen ins Blickfeld – durchaus im bewussten Gegensatz zur Digitalrhetorik der Technologieunternehmen:

Postdigitalität integriert „ein ‚Verantwortlichmachen‘ des Digitalen, hinter die Versprechungen der instrumentellen Effizienz schauen wollend, nicht ihr Ende fordernd, eher ein kritisches Denken über den sehr realen Einfluss dieser zunehmend das soziale Leben durchdringenden Technologien etablierend.“

Jandrić et al., 2018, S. 895

In anderen Worten: Postdigitalität schaut kritisch und reflexiv auf die Transformation, lehnt Digitalisierung aber nicht ab.

Aus dieser Perspektive lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens, Lernen in Bezug zur Digitalisierung muss holistischer und reflexiver werden. Neben dem Lernen mit Technologie auch das Lernen über die Digitalisierung einbeziehen, sowie das Lernen für die Digitalisierung, die die Lernenden als Bürger:innen anstreben (Oberosler et al., 2021).

Zweitens, weil unser Fokus immer noch stark auf dem Lernen mit Technologie liegt (und dem nachvollziehenden Anwenden-können von Software, Diensten und Hardware), müssen Pädagog:innen Technologie bewerten können. Schließlich ist jede Entscheidung für eine konkrete Lösung, vom kleinen Tool bis zur großen Plattform, eine Entscheidung gegen eine andere Option. Unterschiedliche Interessen stehen hinter den jeweiligen Tools und Services. Außerdem bestimmen die Auswahl eines Tools und die Art und Weise, wie es pädagogisch genutzt wird, maßgeblich seine ökonomische, kulturelle, pädagogische – und da wir in einer Demokratie leben – demokratische Wirkung.

Versöhnung von Zweck und Mittel: Kritierien

Dem schlichten Gedanken folgend, dass man Demokratiebildung nicht auf autoritäre Weise vermitteln kann, weil Methoden/Instrumente im Widerspruch zu den Zielen stehen, sollte man doch eigentlich für die kritische politische Bildung des Digitalen schließen, dass diese Tools und Dienste benötigt, die nicht „einfach funktionieren“ mögen, sondern den aus dem kritischem Denken der Pädagog:innen und Lernenden resultierenden Kriterien genügen. Es wäre in diesem Sinne besser, wenn Tools und Dienste zur Mitgestaltung einladen, die Rechte ihrer Nutzer:innen respektieren, anpassbar wären oder alle verstehen könnten, wie sie funktionieren.

Mit der Präferenz für digitale Software und Plattformen treffen Bildner:innen Struktur- und Wettbewerbsentscheidungen und bestimmen so selbst die Entwicklungspfade der Digitalisierung mit. Ein Engagement für Open Source, FOSS und nicht zentralisierte Lösungen ist Teil einer größeren politischen Strategie zur Stärkung von Open Source, für digitale Souveränität, Interoperabilität, für ein Internet-Ökosystem, dass auch in Zukunft ein Ort für viele verschiedener Akteur:innen ist und durch Diversität und Wettbewerb gekennzeichnet ist.

Außerdem gilt der Grundsatz, dass auch im Digitalen/mit dem Digitalen Räume für politische Bildung geschaffen werden, die Rechte und demokratische Prinzipien wertschätzen. Dabei geht es nicht allein um Datenschutz, auch um die Privatsphäre, den freien Zusammenschluss, Mitgestaltung, Eigentum (an den eigenen Daten), Gesundheit und Wohlbefinden und weitere…

Desweiteren zeigt uns der aktuell unkritische Umgang mit ChatGPT und generativer KI aktuell, dass Lernen mit Technologie nicht ohne das Lernen über die Funktionsweisen und Interessen hinter diesen mächtigen Instrumenten funktioniert.

Nicht zuletzt führen uns Tools und Plattformen immer wieder vor Augen, dass sie nicht primär aus einer pädaggischen Perspektive entwickelt wurden. Umso wichtiger, dass Bildner*innen didaktisch-pädagogische Anforderungen formulieren können und kompetente fachliche Entscheidungen treffen.

  • Die Initiative Unblack the Box entwickelte die entsprechenden Kritierien bezogen auf die pädagogische Dimension wie auf das Verstehen der Funktionsweise. Mit dem EdTechReflektor gestaltete sie ein vielversprechendes Reflexionstool, das Pädagog:innen und Lernenden bei ihren Entscheidungen helfen kann.
  • In der Digital Toolbox Competendo empfehlen wir die vorgestellten Ressourcen entlang der Kritierien Openness (Free and Open Source Software, offene Lizenzen wie Creative Commons), Diskretion/Nicht-Monetarisierung, sowie Non-profit.
  • Die pädagogischen Kritierien ergeben sich aus der Bildner:innen-Perspektive. Oft legen diese nicht nur ein Abwägen zwischen verschiedenen digitalen Tools nahe, sondern auch, inwieweit ein konkretes Tool den Lernprozess überhaupt verbessert. Im Digitalen insbesondere mit einem kritischen Blick auf Gamifizierung und Präferierung von „playfulness“, Stärkung der Lernenden in der aktiven Rolle (anstatt sie nur als „user“ zu addressieren), Stärkung ihrer Fähigkeit, selbstbestimmt mit Tools umgehen zu können…
  • Ein Austausch in der formalen und non-formalen politischen Bildung über pädagogische und soziale Kriterien und Anforderungen an Technologie wäre wünschenswert.

Werkzeugkoffer statt Werkzeugplattform

Eine postdigitale Perspektive erklärt auch, warum Dinge nicht „einfach funktionieren“. Selbstverständlich würde das Anbringen einer Wandlampe in einer neuen Wohnung einfacher vonstatten gehen, wenn die Baufirma die Löcher für Lampenbefestigungen schon vor unserem Einzug vorgebohrt oder vorbereitet hätte. Wenn die Wandfarbe schon aufgetragen ist und es eine möblierte Grundaustattung gibt. Das entspräche einer Plattformstrategie, viele Nutzungszenarien zu antizipieren und ein schnelles, möglichst intuitives Erlebnis zu ermöglichen.

Andererseits, würde dann verboten, an anderen als den vorgegebenen Stellen bohren. Es wäre nicht gestattet, seinen eigenen Farbgeschmack auf die Wand zu bringen, statt des Apfelgrüns oder Fensterblaus aus dem Baukasten. Die meisten Menschen haben gute Gründe für ihren Wunsch nach der Freiheit, ihre Wohnung nach eigenem Geschmack und eigenen Bedürfnissen einzurichten,

Dieses Bild zeigt die Vorzüge, selbst gestalten zu können, aber auch dessen Nachteile. Wer seine Freiheit ausschöpfen will, muss sich um sie bemühen. Insbesondere rechtesenstive, kollaborativ entwickelte und anpassbare digitale Tools funktionieren oft nicht vergleichbar einfach wie die vorgebohrten und vormontierten Lösungen. Sei es, weil hinter ihnen nicht das Metadatenwissen und Kapital großer inverstorengetriebener Plattformen steht, das schnelles Reagieren auf die Nachfrage ermöglicht sowie das ebenso schnelle und effektive Ausliefern von Veränderungen Oder weil der Fehler das einzigartige Merkmal ist: Man kann und darf diese Software anpassen und sie sogar für andere als die intendierten Zwecke recht frei einsetzen.

Vielleicht erleben wir auch gerade, dass das große Versprechen der Plattformen – wenn Ihr unsere Skalierung akzeptiert, ermöglichen wir im Gegenzug reibungsloses Funktionieren – sich immer weniger oft einlöst. Gerade im pädagogischen Einsatz kann man oft bemerken, dass sie oft nicht für eine kreative, flexible oder horizontale Form der Zusammenarbeit entwickelt wurden.

Für den Einsatz des Digitalen in der Bildung ließe sich fragen, ob Pädagog:innen nicht auch bei der digtalen Bildung lernen sollten, sich eines Werkzeugkoffers zu bedienen. Montieren, basteln, hämmern, schleifen. Verfügbare Materialien experimentell nutzen, statt immer nur auf Halbfertigprodukte oder fertige Lösungen angewiesen sein zu müssen.


Die Entscheidung für eine Plattform oder ein Tool ist eine politisch-wirtschaftliche Positionierung zur Digitalisierung, ob bewusst oder unbewusst.

Insbesondere die politische Bildung mit ihrem Anspruch an kritisches Denken sollte daraus Schlüsse ziehen.

Kriterien, die sie an sich selbst stellt – keine demokratische Bildung ohne demokratische Grundprinzipien im Bildungsprozess – müssen auf die Bildungsorganisation und ihre Instrumente/Arbeitsmittel übertragen werden.

Politische Bildung muss einen konstruktiven Beitrag zur Vielfalt im Internet-Ökosystem leisten, sowie die unabhängige Seite der Software und Hardwareproduktion stärken, insbesondere FOSS und OSS.

Sie muss ausprobieren, wie man bessere Dinge zum besseren Funktionieren bringt.

-> Von den Entwicklern von offener und freier Software lernen: Mehr kreative Zusammenarbeit für demokratischere und rechtebewusstere Tools!


Dieser Text geht auf den Workshop Lehren und Lernen mit digitaler Software – worauf kommt es an? beim Bundeskongresss Politische Bildung in Weimar zurück, der am 3.November 2023 stattfand.

  • Mit Sigrid Hartong, Professorin für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit dem Forschungsschwerpunkt „Digital Education Governance“Leitung des Projekts SMASCH und Gründerin der Initiative Unblack the Box.
  • Nils Eyk Zimmermann, Programmmanager, Koordinator, Berater und Autor für politische Bildung, digitale Transformation, aktive Bürgerschaft, Zivilgesellschaft.
  • Moderation: Philine Janus (Kooperative Berlin/werkstatt.bpb)

Literatur

Castells, M. (2001). Die Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Leske+Budrich: Opladen

Jandrić, P.; Knox, J.; Besley, T.; Ryberg, T.; Suoranta, J. & Hayes, S. (2018) Postdigital science and education, Educational Philosophy and Theory, 50:10, 893-899, https://doi.org/10.1080/00131857.2018.1454000

Negroponte, N. (1998, Dec. 1). Beyond digital. Wired,12. Retrieved 2023/09/20, from https://www.wired.com/1998/12/negroponte-55/

Oberosler, M; Rapetti, E.; Zimmermann, N. (Hg.) (2022). Learning the Digital. Mit Beiträgen von G. Pirker, I. Carvalho, G. Briz, V. Vivona. Competendo Facilitator Handbook, Brüssel: DARE – Democracy and Human Rights Education in Europe.

Weiser, M. (1991). The Computer for the 21st Century. Scientific American 09/1991; 94-104.