Der autoritäre Wandel in Mitteleuropa 2: Etatismus und Pluralismus

Im ersten Beitrag wurde das Konzept des politischen „Ausnahmezustands“ beschrieben und wie es sich die PiS-Partei in Polen im Sinne ihrer Machtstrategie aneignete. Hierbei handelt es sich um eine dezisonistische Logik des Machtgewinns, die eng mit der Idee der Souveränität verknüpft ist. Macht hat, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Im  zweiten Teil soll es um einen weiteren Kern der politischen Ideologie der PiS gehen, um ihr Verhältnis zur sozialen und politischen Vielfalt. Wie hält es Kaczyńskis Bewegung mit dem Pluralismus? Dabei greift die PiS auf Konzepte zurück, die bereits in den 60er Jahren von Stanisław Ehrlich entwickelt wurden. Will PiS also nach den nächsten Wahlen die Axt an den Pluralismus anlegen?

Auf was und wen man beim Regieren nicht alles achten muss. Kommen die Kirchen, muss man auch den Gewerkschaften etwas geben. Und die Lehrer und Krankenschwestern erst… Wenn viel Geld im Spiel ist, ist Korruption nicht weit. Doch ein Atomkraftwerk, Schieferöl oder Flüssiggasterminals bauen? Irgendwo sind immer Wahlen, und irgendwer will was. Ob der Staat gestärkt aus dem Ganzen herauskommt, gerade weil er es schafft, die Vielfalt der Interessen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger auszubalancieren oder ob er zur Beute von Partikularinteressen wird, ist nicht abschließend geklärt. Aber nicht zuletzt hat der autoritäre Wandel in Europa diese wenig beachtete Frage wieder aufs Tapet gebracht. Schon seit einigen Jahren erstarken in Europa politische Formationen, die den Staat zu re-regulieren trachten. Von Transparenz bis zu mehr Umverteilung reicht das Spektrum. Besonders auf der rechten Seite geht es auch um mehr politische Handlungsfreiheit, staatliche Souveränität.

Die  überzeugten Liberalen sind da relativ schnell zufrieden. Sie sehen politisch, ökonomisch und sozial den optimalen Zustand im chancengleichen, fairen und transparenten Zugang von Bürgern, Unternehmen oder politischen Interessen zu Öffentlichkeit und Märkten. Der Staat habe hier für die Spielregeln und den Rahmen zu sorgen, gegebenenfalls kann er hin und wieder Anreize geben. Minister sind Moderatoren der Interessen und Manager.

Andere wiederum würden den Staat in der stärkeren Verantwortung sehen, sozial korrigierend einzugreifen. Etwa indem schwache Gruppen gestärkt werden, es Möglichkeiten zur Deliberation gibt und möglichst viele Menschen befähigt werden, sich wirksam in die freie Öffentlichkeit einzubringen. Diese Haltung ist New Labor oder vielen Grünen in Deutschland sehr nahe. Wirtschaftlich sind die Befürworter solcher zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation gespalten, ob etwa der Sozialstaat zu den Kernaufgaben des Politischen gehört, oder ob es wie Donald Tusk sagte, eher darauf ankommt, für einigermaßen warmes Wasser im Hahn zu sorgen.

Die Etatisten sehen den Staat als den zentralen Rahmen, in dem souveräne Herrschaft letztlich ausgeübt wird und die Interessen aller gesellschaftlichen Teilbereiche austariert werden. Seine Verbindung zu den Teilsystemen der Gesellschaft und zu den Bürgern wird im Zuge der sozialen Modernisierung immer wichtiger und deshalb ist mit ihm der Aufbau einer wohlfahrststaatlichen Technokratie (was in diesem Sinne gar nicht negativ gemeint ist) verbunden. Administration, gesellschaftliche Institutionen und besonders die Parteien sind für die Rückkopplung zwischen Staat und Bürgern zuständig.

Das ambivalente Verhältnis zum Pluralismus

Dem Etatismus hängt latent Misstrauen gegenüber dem Pluralismus an, denn das freie Spiel der Kräfte, unkontrollierte Prozesse und nicht intendierte Folgen erschweren diese Interessenbündelung in Form staatlicher Planung und Programmierung. Gleichzeitig muss man Einzelinteressen ab einer gewissen Relevanz berücksichtigen und benötigt dafür Kanäle in die Gesellschaft.

Etatismus ist also eine „Etwas-Pluralismus-Politik“. Der Etatismus, dem die polnische PiS und andere rechte Parteien anhängen, betont gleichzeitig die Souveränität des Gesamtstaats, die den Staat gegenüber allen anderen Teilsystemen pivilegiert. Wenn zu viel Bürgerengagement und zu viele ökonomische Interessen auf zu wenig staatliche Politik treffen, schaffte sich der Staat selbst ab, so die Furcht dieser Etatistinnen und Etatisten.

Ein Kernanliegen der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in ihrem „Report zur Lage der Republik“ von 2011 ist deshalb, zu einem Zustand ante 1989 zu kommen und den liberalen Post-Transformationsstaat zu überwinden. Dramatisch beschreibt die Partei dort, dass „Einflussgruppen“ durch falsche politischen Anreize im Sinne einer „Transaktionspolitik“ nicht nur die Funktionsweise der einzelnen Teile des Staats unterminierten, sondern auch das Herz, das „Zentrum der politischen Willensverfügung“ erreichten. Politikerinnen und Politiker im Zentrum der Macht hätten sich daran beteiligt, den Staat „in seiner Funktion den Partikularinteressen unterzuordnen“ PiS: Raport o Stanie Rzeczpospolitej, 2011; S. 14

Haben die Regierungen der vergangenen Jahrzehnte das große ganze dem Meistbietenden verkauft? Anhängern eines selbstbewussten Staats finden dafür sicherlich einige Indizien. Man könnte aus ihrer Perspektive feststellen, dass es an vielen Ecken und Enden nicht weit her ist mit der Fähigkeit des Staats zu komplexer Problembewältigung. Dazu muss man kein PiS-Anhänger sein, denn auch Bahnfahrer, Krankenkassenmitglieder oder Arbeitslose anderer politischer Richtungen würden sich sicher über mehr Resilienz des Wohlfahrtssystems und eine es schützende Hand freuen. So scheint Umverteilung schon seit längerem ein Bedürfnis zu sein, das von den anderen politischen Kräften nicht ernst genug genommen wurde.  Interessant ist hier der Kniff der PiS, die schlechte Umverteilung der Vorgänger – „Transaktionspolitik“ – der guten gegenüberzustellen: der gemeinwohlorientierten im Sinne ihrer Programme wie dem berühmten 500+ Kindergeld.

Die Opposition machte in den letzten Jahren selten Anstalten, die durch die Schocktherapie in den 90ern erzwungende Deregulierung zu überwinden und betonte das Positive in ihr (anstatt sie lediglich als das pragmatisch Mögliche zu begreifen). Die Transformationsgewinner und die, die es hofften, zu werden, favorisierten oft ein individualistisches Modell. Statt des Staats ist es die (Zivil-)Gesellschaft selbst, die die Interessenartikulation und Moderation vornehmen soll. Staat ist langweilig und für den Staat arbeiten auch. Statt öffentlicher Investitionen eben private Investitionen. Statt sozialem Wohnungsbau, Privatisierung und jeder kann dann teilhaben am Markt.

PiS zeigte auf verschiedenen Ebenen immer wieder auf die Schwächen dieses wachstumsabhängigen Paradigmas und dramatisierte: Hier Handlungunfähigkeit, dort Korruption, an anderer Stelle Fehlsteuerung der staatlichen Ressourcen und mittendrin politische Steuerungsgruppen, die sich ihrer systemischen Bedeutung nicht bewusst seien, oder noch schlimmer zu Ungunsten der Allgemeinheit entschieden. So habe Polen nach PiS-Lesart ein Elitenproblem und ein Pluralismusproblem, auf das nun der „große Wandel“ (wielka zmiana) reagiert.

Viele sehen in den etatistischen Konzepten der PiS die Handschrift von Jarosław Kaczyńskis Mentor Stanisław Ehrlich. Ehrlich hat in den 60er und 70er Jahren in einem informellen Kreis vielversprechende Studierende um sich geschart, darunter auch den jetzigen Präsidenten von PiS. Einer von Ihnen ist Wojciech Sadurski. Er beschreibt Ehrlichs politisches Programm 2016 als Reformprogramm für den Sozialismus:

„Ehrlich hat ein Forschung- und Förderprogramm für den Pluralismus in der ’sozialistischen Gesellschaft‘ angelegt. Selbstverständlich nicht des politischen Pluralismus aber mehr abhebend auf die Interessenartikulation und Gruppenpräferenzen in verschiedenen Einflussgruppen, die nicht immer der Kontrolle der PZPR unterworfen waren.“
Wojciech Sadurski: Kaczyński nas uprzedzał, Gazeta Wyborcza, 24. August 2016

Es geht also 1962 um die Einbindung von funktionalen Elementen der Interessenartikulation und -aushandlung in die sozialistische Staatsmaschine. Demzufolge kann man vermuten, dass es 2018 der PiS auch um eine gemäßigte Repräsentation sozialer Interessen gerade auch in Form von NGOs und Parteien geht. Allerdings nicht nach den Spielregeln der liberal geprägten Ordnung. Ehrlich erklärt in seinem Buch über „Die Macht der Minderheit“, dass die Analyse der Gruppeninteressen eine notwendige Ergänzung der sozialistischen Theorie bilden kann und soll. Gegen die westliche Perspektive auf Pluralismus führt er ins Feld, dass ihr idealistischer Blick auf das Individuum die fundamentalen Interessengegensätze und sozialen Unterschiede ignorierte und sich auf die Untersuchung partikularer Interessen fokussierte. Diese Kritik scheint Kaczynski übernommen zu haben. Aber man würde ihm Unrecht tun, wenn man ihn vorschnell zum Leninisten stempelte. Denn Ehrlich stellt aus systemtheoretischer Perspektive klar, dass im modernen Staat vor allem die intermediären Instanzen den Charakter der Gesellschaftsorganisation ausmachen:

„In jeder modernen Gesellschaft können Einzelmenschen auf Organe der politischen Struktur nur als Mitglieder organisierter Gruppen einwirken.“
Stanisław Ehrlich: Die Macht der Minderheit; Die Einflussgruppen in der politischen Struktur des Kapitalismus (polnisches Original: Grupy nacisku); Warszawa/Wien, Frankfurt, Zürich 1962; S. 19

Ausdrücklich möchte er mit seinen Untersuchungen zur Interessengruppen zu einer Theorie der Entscheidung und der Organisation des Staats beitragen (Ehrlich 1962; S.11). Im Unterschied zu den liberalen Denkern fokussiert sich Ehrlich auf den Staat. Zum Vergleich: Sein Kollege Jürgen Habermas etwa würde nicht den Staat, sondern die Gesellschaft stärker als denjenigen Raum beschreiben, in dem durch Deliberation das Gemeinwohl formuliert wird und die den Staat weich von unten prägt.

1990 kam die Wende. Statt einem starken unabhängigen Polen gab es erst einmal komplette Deregulierung. Leszek Balcerowicz, Punks, Materialisten, Schwule Wendehälse, Blender wie Tymiński oder Spaßvögel wie die Biertrinkerpartei konnten Einfluss gewinnen. Für Etatisten und Patrioten der alten Schule sicherlich eine Horrorvorstellung. Während der Staat zerfällt, wollen andere von seinen Resten profitieren. Außenpolitisch müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden, aber nicht aus einer Position der Stärke, man ist auf den guten Willen Anderer angewiesen. Zudem findet in der Gesellschaft eine Öffnung zu verschiedenen merkwürdigen Lebensstilen statt.

Den Staat gegen Einzelinteressen stärken

An Ehrlichs Ideen festzuhalten hieße nun, den Staat wieder aufzubauen, ironischerweise sich also wieder etwas in Richtung Sozialismus zu bewegen. Wenn die 90er für die Kaczyńskis eine Art sittliches Harmageddon darstellten, sind sie paradoxerweise auch ein Quell der Kraft für seine Bewegung. Obwohl er das Parteien-Kleinklein rhetorisch ablehnt, ist wohl kaum jemand darin so versiert wie Kaczyński. 1991 schmiedete er die erste rechte Regierung unter Jan Olszewski. Bei ihrem Fall 1994 schaffte es Kaczynski und die Partei „Porozumienie Centrum“ (PC) noch Kapital aus der Lage zu schlagen und dabei einen Konkurrenten auf der rechten Seite auszuschalten, gerade mit den Mitteln der Intransparenz: So nutzten sie geheime Listen angeblicher inoffizieller Mitarbeiter, um den Fall des fragilen Bündnisses als Opfer dunkler postkommunistischer Interessen darzustellen und die anderen Parteien damit zu diskreditieren.  Kaczynski und PC/PiS bilden erfolgreich Allianzen zwischen konservativen Einflussgruppen. Etwa mit der Kirche, mit dem Redemptoristenpater Rydzik aus Toruń und seinem Radio Maria, mit der im rechten Spektrum konkurrierenden  Samoobrona oder der Liga der polnischen Familien. Die Kaczyńskis und PiS haben hierin nie den Selbstzweck gesehen und alsbald die Gelegenheit gesucht, die Partner zu marginalisieren. Es geht zuerst um die Macht und darum, über die Macht kulturelle Hegemonie zu erlangen, während viele Liberale oder ihre Koalitionspartner sich das vielleicht auch andersherum vorstellen konnten. Der PiS-Ansatz ist konsequenterweise, die politische Steuerungsfähigkeit zu zentralisieren. Die Grundlage des Wandels ist

„die Berufung eines neuen zentralen Gremiums der politischen Verfügung, das nicht in die Transaktionsaktivitäten verwickelt ist. Ein solches Gremium gehört nicht automatisch zur Regierung, zum Präsidenten oder einem anderen staatlichen Organ. Es geht eher um eine Gruppe von Personen, die unter den gegebenen historischen Bedingungen letztgültig die wichtigsten Entscheidungen im Staat treffen.“
PiS 2011; S. 15

Systemisch heißt das, dass das „zentrale Gremium der politischen Verfügung“ („Nowy centralny ośrodek dyspozycji politycznej„) eben J. Kaczyński und seine Freunde sind mit Sitz in der PiS-Zentrale in der Nowogrodzka-Straße in Warschau. Diese kennen sich bereits aus den 90ern. Vom Kern dieses Zentrums sprechen manche auch vom PC-Orden, den alten Weggefährten.

„Das neue zentrale Gremium der politischen Verfügung soll nicht nur frei von der Pathologie der Transaktionspolitik sein, sondern auch von den Einschränkungen verbunden mit Vorfällen aus der PRL-Zeit.“
PiS 2011; S. 16

Nachdem geklärt ist, wer dieses Zentrum ist, wie hängt es systemisch mit den politischen Prozessen zusammen? Erstens ist die Zugehörigkeit nicht statuarisch geregelt. Das ist eine Maßnahme, die typisch für einen „Ausnahmezustand“ ist. 1926 nahm Piłsduski eine solche Rolle ein oder in Deutschland die „Notverodnungskabinette“. Wenn dieser Zustand zum Dauerzustand wird, kann das jedoch die Souveränität beinträchtigen. Mit wem soll ich denn dann über mein Anliegen reden? Mit dem, der vorgibt, mächtig zu sein, oder mit dem, der es ist? Woran erkenne ich, wer mit wem und was und wann? Schon jetzt ist es so, dass eine Art PiS-Astrologie im Entstehen ist, die faktenbasierten Journalismus ergänzt.

Zudem  zeigt sich in diesem zentralen Gremium ein Mangel an Vielfalt. Nur Zbigniew Ziobro ist mit seinen 48 Jahren in den Club alter Männer gestoßen (und als Chef der Bündnispartei „Solidarisches Polen“). Und da in der PiS kein Platz für Kreativität und Originalität ist, werden auch nicht viele andere hochkommen, die strategisches Denken, Charisma und politische Fortune vereinen. Manche wurden weggebissen, sind zu anderen Parteien geflohen oder aus der Politik ausgestiegen. Doch abgesehen davon, dass man nicht weiß, was passiert, wenn Kaczyński nicht mehr kann, stellt sich die Frage, wer glaubwürdiger Ansprechpartner für verschiedene soziale Gruppen sein kann. Mit der mittlerweile abgesetzten Ministerpräsidentin Beata Szydło wurde eine Politkerin in die Führung aufgenommen, die die symbolische Repräsentation der Frauen, Landbevölkerung und weniger aggressiven rechten Wählerinnen und Wähler bewerkstelligte. Die Mutter der Nation tauchte irgendwann auf, weil sie von Kaczyński gecastet wurde. Ebenso der Präsident Andrzej Duda, ein adretter junger Jurist aus Krakau, der dem spröden Amtsinhaber Bronislaw Komorowski den Wandel entgegensetzen sollte. Mit dem jetzigen Premier, Mateusz Morawiecki wurde ein Managertyp an die Spitze des Staats gestellt, der auch den wirtschaftlich Interessierten und den Intellektuellen zeigt, dass man ruhig PiS wählen darf. Aber was hat er im „Zentrum der politischen Verfügung“ zu melden? Das politische Spitzenpersonal dient also fast in leninistischer Tradition als symbolische Repräsentanten, im Parteisprech als „Transmissionsriemen“. Sie repräsentieren verschiedene Gruppen in der Gesellschaft, ohne dass diese Gruppen als solche repräsentiert wären. Nur an der Peripherie der PiS kann Gras wachsen. Nachdem er dort gelandet ist, hat Präsident Duda das erkannt und eben versucht, das Beste aus dieser ausweglosen Lage zu machen, eben sich gegen Kaczyński zu profilieren und im Präsidentenpalast ein zweites Machtzentrum aufzumachen. Das wird auch mit anderen passieren, deren Loyalität an ihre Grenzen stößt und sich nicht wehrlos ergeben wollen.

Wie lange kann dieser Zustand anhalten? Ehrlich beschreibt es in seinem Buch ganz korrekt: „Die Gruppeninteressen trachten danach als organisierte Kraft einen Einfluss auf die Parteien sozusagen von außen auszuüben, während diese ihrerseits bemüht sind, verschiedene Interessen gemäß ihrem Programm zu bewerten, zu selektieren, zu vereinen.“ (Ehrlich 1962; S. 54) Der Wahlsieg der PiS ist auch einer breiten zivilgesellschaftlichen Mobilisierung zu verdanken. Doch PiS ist als Partei recht hilflos, aus solchen Bewegungen Quereinsteiger zu integrieren. So lange es geht, setzt man auf das alte Politikmodell der Mobilisierung statt auf moderne Formen der Kopplung und Beteiligung.

Ausbau des Staats?

Um Souveränität zu stabilisieren müssen mit Ehrlich Parteien und besonders die Technokratie des modernen Staats „beratende Organe und Werkstätten“ ausbilden, in denen Interessen ausgefochten und artikuliert werden können. Ehrlich benutzt die Metapher des Brückenkopfs (Ehrlich 1962; S.208). Als Abwehrmechanismus gegen allzu große Zudringlichkeit dient hier eine starke wie in Westeuropa in den 70er Jahren anzutreffende Parteidisziplin (Ehrlich 1962; S. 167) und eine fundierte Technokratie (Ehrlich 1962; S. 209). Doch beides gab es in Transformations-Polen so noch nicht.

  • Wird PiS hier nach den nächsten Wahlen Schritte gehen – etwa in Richtung Ständestaat, einem Ausbau der staatlichen Verwaltung und mit einem Umbau der Parteiorganisation?

Die Partei diene hier als „Brückenkopf“ zum Staat und zu seiner Administration.  Man kann aber paradoxerweise annehmen, dass Kaczynski seine Steuerungsfähigkeit noch gerade erhält, weil er den Brückenkopf ziemlich schmal gestaltet für das Kapital, aber eben auch für nicht-politische nicht-ökonomische Ziele verfolgende Organisationen von Bürgerinnen und Bürgern.

Dahinter steckt sicher auch die Furcht, dass solche Integrationsbemühungen  die Parteidisziplin und Kampagnenfähigkeit in einem Moment der Expansion beeinträchtigen können. Kommen Neue, gibt es erst einmal Streit. Und in einer Partei mit einer dezisionistischen und kategorischen Streitkultur, ist die Spaltung dann nicht weit. So dient die Partei noch als Kampagnenrückgrat zur Erlangung der Macht im Staat. Sie kann aber momentan wohl nicht die Funktionen übernehmen, die mit Interessenausdifferenzierung zu tun haben.

Als Vertreter eines starken Staats und materialistisch geschulte Intellektuelle gehen Ehrlich und Kaczynski sicher davon aus, dass es nicht die Gesellschaft ist, die den Staat formt, sondern der Staat die gesellschaftliche Organisation formt:

„Die Einwirkung der politischen Struktur und ihrer Wandlungen auf das Verhalten der Einflussgruppen wird von vielen Autoren, die als Pluralisten gelten, unterschätzt.“
(Ehrlich 1962; S. 277)

So geht es also darum, die Art und Weise, wie Interessen sich organisieren aus der Position der Macht zu gestalten. Denn wie hat PiS das in 2011 analysiert? „In Polen und in anderen Ländern kommt es zu Umständen, in denen verschiedene Körper der Verteilung miteinander konkurrieren.“ (PiS 1011; S. 16) Wenn man historische Analogien suchte, könnte man sagen, in einer Phase des Kriegs-PiSismus muss zuerst deren Einfluss zurückgedrängt werden.

Aber was passiert dann? Denn „ein Monopol der Vermittlung zwischen dem Individuum und der staatlichen Organisation würde unweigerlich zur Abweisung sogar der Gruppeninteressen der herrschenden Klassen“ führen, wie Ehrlich schreibt (Ehrlich 1962; S. 279) Es sieht so aus, als ob sich die PiS noch auf den Ausnahmezustand beruft, aber keine Rezepte für den Umbau des Parteiensystems und Einflussgruppensystems danach besitzt.

Wäre es so, würden die Abschaffer der liberalen Ordnung dann von ihrem Dezisionismus gelähmt und was bleibt, wäre eine disfunktionale Autokratie. Oder sie schaffen es, einige repräsentative und responsive Elemente mit ihrer autoritären Herrschaftspraxis zu verknüpfen. Kaczynski und Kollegen müssten dafür besonders die Einzelinteressen, die nicht wirtschaftlich motiviert sind, besser wahrnehmen. Das tun sie weder im eigenen Laden, noch in der Gesellschaft. So konnten die Frauenstreiks 2017 überraschend stark werden, andere werden folgen. Wer von PiS etwas möchte, hat heute nur die Möglichkeit, den Vorsitzenden um ein Selfie zu bitten.

Nicht zuletzt, stellt sich die Frage, wie souverän PiS entscheiden wird, wenn es um echte Verteilungskämpfe geht. Dann wird der Schiedsrichter in einer solchen autoritären Konzeption unversehens selbst auch nach außen zum Akteur. Hand aufs Herz: Ein paar Milliarden für die Polonisierung der Wirtschaft? Oder mehr Geld für Kindergärten? Oder für das Gesundheitssystem?

Es kann sein, dass die alten Männer  unbequemen Zeiten entgegensehen. Antoni Macierewicz war ein erstes Opfer der Orientierung auf die eigene Binnenlogik. Es geht weniger um innerparteiliche Demokratie als um innerparteiliche Ausdifferenzierung und um ein Mindestmaß von Diskussion.

Der große Wurf der Opposition?

Dies kann die Chance für die Opposition sein. Allerdings muss sie Organisationen und Parteien entwickeln, die es mit PiS aufnehmen können. Diese müssten responsiv sein, eine klare politische Botschaft haben und den Willen zur Umgestaltung glaubhaft verkörpern. Zu oft in der Vergangenheit wurden Projekte wie der Wohlfahrtsstaat, der Ausbau der Sicherungssysteme oder Werte wie Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit arithmetisch statt politisch betrachtet. Damit wurde lange das eigene politische Risiko effektiv minimiert, am Ende aber die eigene Partei in die Identitätskrise getrieben. In anderen Worten – es geht heute um ein realistischeres Staatsverständnis der Liberalen und Linken, das es mit PiS aufnehmen kann.

Dabei ist es nicht mit einem rein formalistischen Verfassungsverständnis getan, das man jetzt ostentativ vorzeigt. Mit Ehrlich können wir lernen, das staatliche Institutionen sich entlang politischen und sozialen Willens formen. Wenn sie ihre Mission nicht erfüllen, dann werden sie  überwunden (Ehrlich; S. 283).

Auf die Rechtsstaatsklempnerei der PiS kann man möglicherweise antworten, indem man sich erklärt, einen ebenso großen Wurf entwickelt und damit in die Auseinandersetzung geht

  • indem man für die die Verfassung, das Oberste Gericht, den Verfassungegerichtshof, die Gerichte, die Regierung und die freien Medien unterfütternden demokratischen Werte wirbt.
  • indem man eine Vision für die Demokratisierung des öffentlichen Lebens entwirft und diese in der eigenen Organisation pluralistischer vorlebt.
  • indem man da, wo die Rechte identitätsbasierte eindimensionale Lösungen bietet, die Dilematta hinter diesen Lösungen couragiert benennt und offen verhandelt.

Sicherlich kann man, wie die Liberalen es tun, bescheiden einwenden, dass trotz dieser systemischen Unzulänglichkeiten doch eigentlich viel erreicht wurde und es dem Land unglaublich gut gehe, besonders, wenn man die Situation mit der 1990 vergleiche. Abgesehen, dass auch die PiS ihre Skandale habe. Aber diese Argumentation geht oft deshalb ins Leere, weil sie eben nicht mit dem Wohlstand von heute im Rücken programmatisch Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit anders durchsetzt als im erprobten laissez faire. Es bedarf offensiver demokratischer Lösungen, die auf die Ängste reagieren, dass dieser Wohlstand nur auf Sand gebaut sein könnte, weil er von Direktinvestitionen abhängt, dass es kein Sicherungsssystem gibt und Arme um ihre Zukunft fürchten oder dass Polen als nun offenes Land keinen positiven Ansatz zum Umgang mit sozialer Vielfalt finden kann.