Begegnungsräume – Infrastruktur für demokratische Resilienz – R. Manthe

F: F. Erben/AdB

Dass der unsere Demokratie auszeichnende Pluralismus besondere Qualitäten hat, kann man am Grad messen, wie vehement ihn die autoritären Kräfte in Religion, Zivilgesellschaft und Staat ablehnen. Ihn zeichnet mehr aus als die Beteiligungs-Mindeststandards in parlamentarischen, planerischen oder Gesetzgebungsverfahren oder in den öffentlichen Debatten. Vor allem ermöglicht unsere Demokratie vielen Bürger*innen an vielen Stellen, positive Erfahrungen mit Pluralismus und dem Austausch mit „Fremden“ zu sammeln, völlig dem Bild gegenüberstehend, dass seine Gegner*innen zeichnen. Ein Bild, das uns zeigen soll, wie aufreibend, gefährlich, degenerierend, komplex oder schlicht dumm der offene und konstruktive Dialog mit Anderen sei.

In Räumen, in denen Menschen und Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen, Hintergründen und Interessen zusammenkommen, eignen sich Bürger*innen die Fähigkeit zum Umgang mit Diversität und pluralen Perspektiven im eigenen persönlichen Erleben an. Deshalb benötigen wir solche Räume.

Das ist unter heutigen Bedingungen nicht gerade einfach. Gerade in größeren Städten nimmt die soziale Segregation zu, Unterschiede werden immer öfter (nur) mediatisiert (und damit auch von Dritten vorstrukturiert) erlebt. Mehr Diversitätsbewusstsein zieht höhere Ansprüche an Begegnung nach sich. Polarisierung nimmt allgemein in der Gesellschaft zu…

Rainald Manthe ist Programmdirektor für Liberale Demokratie im Zentrum Liberale Moderne in Berlin und konstatiert: „Wir setzen uns im Alltag nicht mit den Sicht­wei­sen und Lebens­rea­li­tä­ten der anderen Bür­ge­rIn­nen aus­ein­an­der, weil wir ihnen kaum begeg­nen. Eine rein mediale Ver­mitt­lung kann eine Begeg­nung face-to-face nicht erset­zen“ (Manthe 2021).

Aus diesem Grund sieht Manthe Staat und Zivilgesellschaft in der Pflicht, diese Räume zu schaffen, zu bewerben und zu nutzen. NGOs, politische Bildung oder Medien haben in diesem Sinne auch eine besondere Verantwortung, dass diese Orte und Prozesse in einer Form gestaltet und moderiert werden, dass Bürger*innen, „die nicht von allein zusammenfinden würden“ diese regelmäßig aufsuchen und sich ihnen gegenüber öffnen.

Die Flüch­tig­keit der Begeg­nun­gen auf Face­book und Twitter lässt einen anders mit­ein­an­der umgehen, als mit Nach­barn, Ver­eins­ka­me­ra­din­nen oder Schul­freun­den, die man wie­der­trifft. Auch fehlen die Kon­flikt­mi­ni­mie­rungs­me­cha­nis­men der face-to-face-Inter­ak­tion.

R. Manthe

Begegnungsräume als Infrastruktur

Indem er Begegnung nicht nur von der individuellen Wirkung her denkt, sondern sie als Infrastruktur oder systemrelevanten Teil begreift, geht der Autor über viele ähnliche und häufig affirmative Ansätze aus dem kommunitaristischen Spektrum hinaus (wie z. B. Miteinander reden, oder Überlegungen Einzelner, wie man eine bessere Streitkultur befördern könne). So rufen die Einen mit Mohamed Amjahid von der taz: Charmante Konservative gesucht. Die anderen, entgegnen, dass es weniger woke zugehen möge, weil man diese Doppelmoral der Linken ja nicht aushalte. Es ist eine Sache, anderen öffentlich ein Charmedefizit oder Doppelmoral zu diagnostizieren. Wirklich herausfordernd ist es, ihnen dies ins Gesicht zu sagen, ihre Reaktion friedlich ertragen zu müssen und zu wissen, dass die eigene Followerschar nicht in voller Twitterstärke unterstützen wird.

Soll kontroverser Austausch auf Dauer nicht zu einer statischen Zwei-Parteien-zwei Weltbilder-Polarität erstarren, muss unsere Aufmerksamkeit stärker gerade denen gelten, die nicht am Lautesten in die Gesellschaft rufen (können). Jene, die nicht bereits über viele Ressourcen und Aufmerksamkeit Verfügenden, die Zwischentöne und vielfältige Perspektiven einführen.

Nun kann man sich fragen, wie die Räume genau aussehen, in denen das Aufeinandertreffen von Vielfalt besonders gelingt – sind es Fußgängerzonen, Seminare, Kneipen, Bürger*innenräte, Bibliotheken, Sportvereine, Kongresse Stadtteile, Schulen, Stadien, ehrenamtliche Projekte, Räume für die Zivilgesellschaft, soziokulturelle Zentren, Hauptstraßen…? Was Besonderes passiert dort unter welchen Umständen? Lassen sich daraus Rückschlüsse für zukünftige oder neue Begegnungsräume als Infrastruktur ziehen? Wie kann man Menschen motivieren, diese Orte aufzusuchen? Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen können wir zu einem analytischen und forschenden Verständnis von Begegnung und Interaktion gelangen.


Beispiel Weltsozialforum

Manthes Promotion Warum treffen sich soziale Bewegungen? beschäftigte sich mit dem Weltsozialforum (Manthe 2020).

Ihn interessierte, was genau die Faszination dieses Treffens aus Sicht der Teilnehmenden ausmacht, ein Ereignis, das auf vielerlei Ebenen gar nicht selbstverständlich ist – schwer erreichbar, Kommunikationsbarrieren, soziale oder kulturelle Unterschiede, begrenzte Organisationsmöglichkeiten, etc.

So sieht sich Manthe als soziologischen Interaktionsforscher und fragt, wie die Räume genutzt werden, die das Weltsozialforum aufspannt. Dieser für dieser sich für Interaktionen interessierende Ansatz bietet viele Möglichkeiten, gerade auch für die Praxis. Denn von Projekten wie dem Weltsozialforum können wir lernen, wie Netzwerke und NGOs selber dazu beitragen können, dass Veranstaltungen und Vernetzungen partizipativ, horizontal, demokratisch und als etwas Besonderes erlebbar stattfinden können, sich also mithin von dem unterscheiden, was wir üblicherweise als Formate oder Veranstaltungen konzipieren.

Im Rahmen unserer Fachtagung „Widerstandsfähigkeit demokratischer Gesellschaften stärken“ hatte ich in Bad Kissingen das Vergnügen, mit Rainald Manthe über diese Dinge ins Gespräch zu kommen – Begegnungsorte als Resilienzfaktor der Demokratie.

  • Seine weiterführenden Ideen zum Thema kann man in seinem Blog finden: https://rainald-manthe.de/

Manthe, Rainald (2020). Warum treffen sich soziale Bewegungen? (5-8). Bielefeld: transcript Verlag https://doi.org/10.14361/9783839456163