Bildung und Digitalisierung – Rezension

Christine Trültzsch-Wijnen/Gerhard Brandhofer (Hrsg.): Bildung und Digitalisierung. Auf der Suche nach Kompetenzen und Performanzen. Baden-Baden 2020, Reihe Medienpädagogik, Band 4, Nomos, 330 Seiten. Erschienen in: Außerschulische Bildung – Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung 04/2022

Das immer Gleiche?“ Als Antwort auf die Frage erklärt der Sammelband den Anspruch, das Thema Bildung und Digitalisierung „multiperspektivisch zu betrachten und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit konkreten Beispielen und Berichten aus der medienpädagogischen Praxis zu verbinden.“ Eine verbindende Klammer der unterschiedlichen Beiträge ist der Fokus auf Performanz. Hier gehe ich auf die Beiträge ein, denen dies besonders gelingt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen der digitalen Transformation sind dies besonders solche, die sich weniger zur Selbstvergewisserung auf die Traditionsbestände deutscher Medienpädagogik stützen, oder die, die ins Apologetische verfallen, sondern die, die uns durch eigene Forschung und vor allem Empirie zu neuen Erkenntnissen oder Fragestellungen verhelfen.

Eine wichtige Fragestellung in Gesellschaft und Forschung ist aktuell, was eigentlich digitale Kompetenzen in einer Zeit ubiquitären Rechnens, der (globalen) Plattformisierung und der Datafizierung des gesellschaftlichen Lebens sind. Der europäische DigComp Kompetenzrahmen wurde 2021/2022 überarbeitet und wird Impulse in nationale Rahmen und Kompetenzvorstellungen tragen. Christian Wiesner und Claudia Schreier schlagen das Konzept des „Computational Thinking“ vor. Wie andere auch, haben sie mit den Herausforderungen von sich transversal und holistisch verstehenden Kompetenzrahmen zu kämpfen: ihre Abgrenzung und ihr Verhältnis zu anderen Rahmen mit ähnlichem Anspruch. Auch tendieren digitale Kompetenzrahmen dazu, (demokratische) Haltungen und Werte wenig zu berücksichtigen, oder die Befähigung der Lernenden, die politisch-(digital)wirtschaftlichen Strukturgebungen der Digitalisierung und des Computings zu reflektieren, zu vernachlässigen. Der informative Beitrag von Gerhard Brandhofer, Marlene Miglbauer, Walter Fikisz, Elke Höfler und Fraes Kayali beschäftigt sich mit dem österreichischen Kompetenzraster digi.kompP für Pädagog*innen. Digital mediatisierte Lernprozesse fordern immer häufiger vom Bildungspersonal, digital kompetente Entscheidungen über Digitalität zu treffen.

Nina Grünberger plädiert dafür, dass das globale Meta-Thema Klimaschutz ernsthaft aufgegriffen wird. Das könnte man auch für die Digitalisierung selbst als gesellschaftliche Meta-Entwicklung fordern. So liegt die Frage des „wie“ auf der Hand: Mehr Umweltbildung beziehungsweise BNE in der Pädagogik des Digitalen? Oder mehr Umweltpädagogik, die das Digitale besser integriert? Sind ggf. neue Rahmenmodelle wie der europäische GreenComp Teil der Lösung?

Christine Trültzsch-Wijnens Arbeit zu „Medienhandeln Habitus und digitale Kompetenzen“ ist eine überzeugende und um Klarheit bemühte Übertragung des Habitus-Konzepts auf Medienkompetenz (Summe von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen) und -performanz (tatsächliches Medienhandeln). „Medienbezogenen Handlungspraxen einschließlich des medienbezogenen Geschmacks wird in Prozessen sozialer Distinktion ein unterschiedlicher ‚Marktwert‘ beigemessen, welcher in verschiedenen sozialen Feldern variiert.“ (S. 90) Auf der Grundlage empirischer Forschung (10 bis 30-Jährige) wurden „Medienhandlungstypen“ entwickelt. Eine befähigende Pädagogik findet hier Hinweise: „Als Ergebnis (…) kristallisierten sich die psychische und körperliche Reife sowie damit verbundene Entwicklungsaufgaben, alltägliche Bedürfnisse und Herausforderungen der Lebenswelt, der mediale Habitus der Familie und die Vermittlung von kulturellem Kapital durch Medienerziehung sowie die kulturelle Passung und die soziale Distinktion heraus.“ (S. 85) Der Beitrag kann eine alltagsnahe medienpädagogische Reflexion entlang dieser Typen in Fachkräfteausbildungen und in der konkreten medienpädagogischen Arbeit bereichern.

Ähnlich subjektorientiert ist auch die Haltung des Beitrags „Digitaler Hausverstand?!“ Thomas Nárosny und Elke Szalai bilden entlang von Interviews aus der Arbeitswelt Personas und versuchen zu erfassen, welche digitalen Fähigkeiten verschiedene Menschen in ihrem Alltag entwickeln, unabhängig davon, was Bildungsforscher*innen meinen, was sie benötigten. So lernen wir, dass etwa die Fähigkeit, anderen den Umgang mit Technik erklären zu können, in Bildungskonzepten zu kurz komme oder ein quasi post-digitales Verständnis vom Digitalen (das Digitale selbstverständlich in allen beruflichen Kontexten akzeptierend) verbreiteter sei als viele denken.

Martin Ebner, Philipp Leitner und Markus Ebner sind begeistert von den Möglichkeiten von Learning Analytics in der Schule. Sie sehen auch Herausforderungen – im Datenschutz und mangelnder digitaler Kompetenz der Lehrenden. Man möchte anfügen: Die Forscherinnen im LADi Projekt (Learning Analytics und Diskriminierung) der HTW Berlin zeigen, dass man auch algorithmischen Bias in selbst lernenden Systemen nicht unterschätzen sollte. Ob man nun will oder nicht: Früher oder später werden Menschen algorithmisch bewertenden Systemen ausgesetzt, im Studium etwa oder beim Recruiting. Zudem wird ihre Anwendung in der Breite der Bildung auf europäischer Ebene strategisch gefördert. Umso wichtiger, dass die Sache konstruktiv verhandelt wird.

Auch Blockchain-Apologeten sind unter den Autor*innen, die aber keine konkreten Anwendungsszenarien aufzeigen, die uns von den originären Vorteilen von Blockchains überzeugen.

Für eine moderne Hochschuldidaktik versuchen vermehrt engagierte Hochschullehrer, etablierte Haltungen und Methoden der non-formalen außerschulischen Bildung (bisweilen unbewusst) zu übertragen. In diesem Band tut dies der Beitrag von Daniel Otto zum digital unterstützten Storytelling.

Michael Kerres, Barbara Getto und Josef Buchner beschreiben die Bemühungen von Hochschulen, sich (digital) zu modernisieren. Geht es hier eigentlich wirklich um Digitalisierung oder ist Digitalisierung nur Katalysator eines an vielen Stellen überfälligen Neubestimmungsprozesses höherer Bildung?

Anmerkungen zur künstlichen Intelligenz als Thema im Schulunterricht: Peter Micheuz zeichnet die Geschichte der künstlichen Intelligenz mit Lust an der Geschichte nach und plädiert für die kritische, konstruktive und neugierige Integration des Themas in den Unterricht (meaningful learning). In einer Form die es Schülern auch ermöglicht künstliche Intelligenz zur Problemlösung heranzuziehen. Aber warum eigentlich nur im Informatikunterricht?