Sollen unsere Kinder vom LEGO-Mann oder von Hannah Arendt lernen?
In froher Eintracht und verbunden im Willen, Europas Bildung zukunftsfest zu machen, saßen beim European Education Summit im Januar 2018 in Brüssel zwei Bildungsministerinnen und ein Konzernmanager zusammen: Hilde Crevits (Region Flamen in Belgien), Ingrid van Engelshoven (Niederlande) und Tom Hall (LEGO Education International). Schnell waren sie sich einig. Es mangele den europäischen Schulen an der Fähigkeit, ihren Schülerinnen und Schülern Kreativität zu vermitteln. Dabei bräuchten Europas Unternehmen mehr kreative Köpfe. Auch politisch steht die Gleichung: je mehr kreative Köpfe, desto mehr lösen sich strukturelle Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit, Radikalisierung und technologischer Rückstand.
Als Autor eines Handbuchs zur Förderung der Kreativität als Fähigkeit in Europas Jugend, erfreut es einen, wenn man dem Zeitgeist gewissermaßen das passende Tool in die Wunschbox legen konnte (N. Zimmermann, M. Gawinek-Dagargulia, E. Leondieva: Creativity Handbook). Gleichzeitig irritiert es, dass so Viele mit so unterschiedlichen Motiven die Kreativität der Jugend fördern – vor allem als Rohstoff schürfen wollen. Sind wir geboren, um frei zu sein und uns die Welt um ihrer Selbst Willen kreativ anzueignen, oder um unser kreatives Potenzial zu aktivieren? Für wen und was eigentlich? Wohin führte uns die totale kreative Gesellschaft, mit kreativen Schulen, kreativen Städten und kreativer Buchhaltung?
Aus empirischer Sicht kann man an der Aussage zweifeln, dass Europas Jugend zu unkreativ für die Zukunft sei. Vermutlich stieg im Laufe der letzten 50 Jahre das allgemeine Kreativitätsniveau konstant an. Klar, es gibt Defizite in Schulen, Kreativität zu fördern, aber vor allem gibt es da Probleme in den Unternehmen, wenn man Arbeit als Teil lebenslangen Lernens begreifen mag, im lebenslang relevanten Teil des Bildungssystems. Hand aufs Herz, Tom Hall: Zu wie vielen Anteilen will LEGO an seinen Plastikgießstraßen kreative oder zuverlässige Arbeiter? Ist die Unternehmensorganisation weit genug, den Kulturwandel tragen zu können? Gilt das auch für das gesamte Unternehmen und seine Zuliferunternehmen oder nur für die europäische Zentrale?
Kreativität und Konvention
Wie wäre eigentlich ein Europa der entfesselten Kreativität? Jede Arbeiterin, jeder Büroangestellte würde mit unorthodoxen Lösungen ordentlich Staub aufwirbeln. Organisationen, Unternehmen und Parteien würden in eine große Krise geraten, wenn die Masse der Mitarbeitenden mindestens so kreativ ist wie die, die durch die Mühlen der institutionellen Konditionierung gegangen sind. Wollen wir das wirklich?
Einerseits ist die Vorstellung kreativer Organisationen ein moderner Traum. Aber die Theorie sozialer Systeme zeigt, dass Systeme und Organisationen dazu neigen, sich intern zu schließen und selbstreferentiell ihren Sinn und ihren modus operandi entwerfen. Die Öffnung nach außen zum Zwecke der Neuschöpfung war und ist stets Minderheiten zugedacht – disruptiven Chefs, der Jugend, den Intellektuellen, den Künstlern, aber selten der Mehrheit. Letztlich haben wir Angst vor einer disruptiven (also zerstörerischen) Masse.
Der Begriff “Normalo” kommt von “Norm”. Die Geschichte der Normung lehrt uns, dass Normierung und Neuschöpfung zusammenhängen. Die scheinbar unkreative DIN-A4-Anstalt ermöglichte kreativitätsbasierte Innovation – Entwicklung ist auch im Sozialen ein dialektischer Prozess der Infragestellung und der Normung, der Folge von Chaos auf Ordnung. Demzufolge sind Zweifel angebracht, ob die Minister und der LEGO-Manager wirklich im Auge gehabt haben, die guten alten Grundlagen ihrer Ordnung in den Mülleimer zu werfen.
Focault lachte aus dem Philosophenhimmel, falls sie es ernst meinten – Minister, die nicht mehr ordnen, wozu sind sie denn da? Unternehmen, die ihre Arbeitnehmer nicht mehr konditionieren und kontrollieren? Dann würde ja die Gewerkschaft die Macht übernehmen.
Wozu kreativ sein?
Selbstverständlich ist unser Interesse an Kreativität zweckgeleitet. Lego-Manager haben immer auch höhere Produktivität ihrer Mitarbeiter*innen und größere Effizienz der Abläufe im Sinn. Das Interesse der Bildungsminister wird aktuell nicht zuletzt von der Angst vor (Jugend-)Arbeitslosigkeit getrieben. Kreativität wäre hier ein neuer Weg: Wenn es keine Jobs gibt, schafft sie euch selbst. Oder: mehr kreative Arbeitnehmer führen zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber geht das so einfach, mit ein bisschen mehr Kreativität zu kompensieren was über 20 Jahre Wirtschaftspolitik nicht geschafft haben? Dem Ruf nach Kreativität erscheint vor diesem Hintergrund ein wenig Verzweiflung in der Stimme zu liegen.
Neben der reinen Zweckmäßigkeit kreativer Bildung leiten die Teilnehmenden in den bildungspolitischen Debatten auch humanistische Werte. Noch vor ein paar Jahrzehnten hatten Eltern ja Grund zur Sorge, wenn Lehrer bemerkten, ihre Kinder seien “zu kreativ”. Denn was zählte, war: sich einfügen, Disziplin zeigen und Durchsetzungswillen.
Auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive gibt es einige gute Gründe dafür, Kreativität vom Zweck her zu denken. Viele fühlen, dass unsere Welt in eine politische, ökologische und ökonomische Krise gerutscht ist, Wachstum 1.0 geht wohl zu Ende. Weil zu befürchten ist, dass die westliche Produktivität ihre Kinder frisst, keimt die leise Hoffnung, dass Kreativität als Wachstumsmotor 2.0 fungieren möge. In diesem Sinne will man sie als transformative Kompetenz fördern und integriert sie zunehmend in moderne Kompetenzmodelle.
Soziales Leitbild
Auch die innere Demokratisierung der Gesellschaft hat ihre Spuren hinterlassen. Sich auf Herkunft oder kulturelle Überlegenheit zu berufen um den eigenen Status zu rechtfertigen, gilt in gesetzten Kreisen heute als unfair. Man strebt nun eine Chancengesellschaft an und will die bürgerliche Utopie von der Meritokratie endlich umsetzen. Kreativität ist hierbei ein passender neuer Leitbegriff, der Leistung (“creare” für lat. schöpfen), Freiheit (die der Boden für Kreativität ist) und aktive Bürgerschaft (die der kollektive Prozess der Schöpfungskraft vieler ist) zusammenbringt und Gerechtigkeit meritokratisch neudefiniert.
So amalgamieren eine nutzenökonomische und eine humanistische Weltsicht. Der alte idealistische Glaube an das Individuum wird verbunden mit der relativ neuen Vorstellung, dass alle, vom Migranten bis zum Ärztinnengatten, von der Firmenlenkerin zum Müllkutscher, gewinnen, wenn jeder seine Stärken nur zur Geltung bringen möge (also wenn sie über wenig ökonomisches Kapital verfügen, ihr kreatives Potenzial erschließen). Und am Ende sind ökonomische und bürgerliche Selbstverwirklichung eins.
Doch sollten wir auch fragen, was mit denen geschieht, die vom guten Willen ihrer Mitmenschen abhängig sind. Gestern waren sie arm, weil sie krank waren, weil sie aus der falschen Schicht kamen, weil sie uninspiriert sind, weil sie mal Pech hatten oder dauerhaft haben. Morgen sind sie dann arm, weil sie nicht kreativ genug sind? Soziale Unterschiede und Klassen werden nicht automatisch durch mehr kreative Bildung überwunden, gesellschaftliche Herrschaft wird nicht allein durch kreativere Führung demokratisiert.
Ob Kreativität wirklich ein Bildungsideal wird oder nur ein Leitbegriff für Privilegierte hängt davon ab, wie wir kreative Bildung ermöglichen. Wer Kreativ-sein nur als Methode für mehr Produktivität begreift, limitiert unsere Fähigkeit, Lösungen für die mit den großen gesellschaftlichen Transformationen verbundenen Herausforderungen zu finden, die außerhalb kapitalistischer Kategorien zu suchen sind. Um soziale Innovation zu schaffen und um Demokratie, Umwelt und den Kapitalismus zu reparieren, muss kreative Bildung einen weiteren Horizont aufspannen.
Andererseits besteht die Chance, dass über mehr soziale Kreativität, die Bedeutung von kulturellem und sozialem Kapital neben dem ökonomischen gestärkt wird. Die ehemals aristokratische “Künstlerexistenz”, deren Produktionsmittel im Wesentlichen die eigene Kreativität war, könnte demokratisiert werden. Ehrenamt und Zivilgesellschaft könnten profitieren von mehr Anerkennung von Engagement und Mitgestaltung. Eine Gesellschaft, die sich Gedanken über die Organisation des sozialen Zusammenhalts in postindustrieller Perspektive macht, muss breitere schöpferische Aktivitäten anerkennen als die heutige, auch um die Entwicklung der Demokratie und des Zusammenhalts zu gewährleisten. Kreative Kompetenz wäre die notwendige Fähigkeit, die Menschen jenseits des industriellen Arbeitsethos nicht in Langeweile und Gleichmut versinken ließe, sondern ihnen ermöglichte, auch jenseits von Werkbank und Großraumbüro zu sozialer Entwicklung beizutragen, ihrem Trieb zum Handeln zu folgen und dafür anerkannt zu werden.
Kreativität kann aus demokratischer Perspektive auch als ein unsere Freiheit mit konstituierendes soziales Recht betrachtet werden. Jeder und jede sollen kreativ sein dürfen, aber nicht müssen. So wie es auch OK ist, sich nicht aktiv politisch einzubringen, aber man es jederzeit können sollte. Kreativität als Kompetenz enthält die geistige Fähigkeit, Dinge zu entdecken, in Frage zu stellen, sie neu zu ordnen und bislang Bewährtes neu zusammenzupuzzeln. Sie enthält auch eine aktive Komponente – den Drang, etwas Neues zu unternehmen. Hannah Arendt beschrieb, dass der Mensch die Quelle der Freiheit sei und die Quelle der menschlichen Freiheit sei dessen Fähigkeit zum schöpferischen Handeln: “Das Wunder der Freiheit liegt in diesem Anfangen-Können beschlossen.” (H. Arendt: Denken ohne Geländer – Texte und Briefe; p. 85)
Pädagogische Perspektive: kreative Spannungsfelder und kreativitätsoffene Orte schaffen
Ermöglichen wir möglichst Vielen, diese Fähigkeit in möglichst vielen unterschiedlichen sozialen Rollen zu erwerben – als Arbeitnehmer*innen, im Ehrenamt oder in ihrem persönlichen Umfeld. Gestalten wir Rahmenbedingungen, die dafür günstig sind, insbesondere durch kreativitätsoffene Orte: Unternehmen, die kritisches und divergentes Denken in allen Ebenen der Hierarchie fördern, Bildungseinrichtungen, die kreatives Denken und schöpferisches Handeln verknüpfen, und Organisationen, die offen für neue Ansätze und für Menschen, die andere Ansätze repräsentieren, sind.
Das ist nicht zuletzt eine anspruchsvolle pädagogische Aufgabe. Denn Kreativität ist ein Denkprozess, der aus divergenten und konvergenten Denken besteht, also in einem Spannungsfeld sich gegenüberstehender Denkweisen entsteht. Aus der Evolutionsperspektive ist sie das Ergebnis eines Dualismus von “blinder Variation” und “selektiver Beibehaltung” (blind variation and selective retention; Donald Campbell). Keine Höhenflüge ohne Brüten, keine neue Idee ohne Pause oder Zerstreuung. Keine Innovation ohne Frust, Spaß, Zorn oder andere Emotionen.
- Mehr zu Kreativität und wie wir diese fördern können: N. Zimmermann, M. Gawinek-Dagargulia, E. Leondieva: Creativity Handbook: Building connections, drawing inspirations and exploring opportunities as individuals and groups
- Einzelne Exemplare und weitere Hintergrundinformationen beim Autor erhältlich