Zwischen Utopie und Dystopie – Rezension

Angelika Beranek/Sebastian Ring/Martina Schuegraf (Hrsg.): Zwischen Utopie und Dystopie. Medienpädagogische Perspektiven für die digitale Gesellschaft. München 2020, Schriften zur Medienpädagogik 56, kopaed Verlag, 156 Seiten. Erschienen in: Außerschulische Bildung – Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung 02/2022.

Der Band vereint Beiträge unterschiedlicher Form und Qualität. Die Rezension fokussiert auf konzeptionelle Anregungen für die Medienpädagogik. Angelika Beranek und Sebastian Rink beschäftigen sich mit den Narrativen über Technologie, etwa in Filmen, die deutlich nicht der realen Entwicklung entsprechen. Sie fordern für die Medienpädagogik mehr Theorieleitung und normative Setzung. Wie kann normative Setzung und Theoriebildung so geschehen, dass sie nicht in einem bloßen ja oder nein zur Digitalisierung endet?

Gerhard Tulodziecki geht hier einen Schritt weiter, indem er verlangt, dass Medienpädagogik die „hinter dem ‚medialen Interface‘“ liegenden Konzepte in den Blick nehmen müsse. Von der Medienpädagogik fordert er einen umfassenden Blick auf KI. Man müsse ein humanistisches Weltbild bewahren, aber: „Allerdings sollte der Leitgedanke des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts nicht als geschlossenes universalistisches Konzept, sondern als offener Entwurf verstanden werden, der es notwendig macht, sich über das wünschenswerte Verhältnis von Mensch und Maschine im Diskurs zu verständigen und dieses in humanistischer Weise zu gestalten – bei aller Unbestimmtheit und Unsicherheit und allen ökonomischen Widerständen zum Trotz.“ (S. 45) „Eine unreflektierte Vermischung von Normen mit empirischen Aussagen“ müsse vermieden werden.

Martin Geisslers Aufmerksamkeit und Werben gilt dem Potenzial des (digitalen) Spiels für die Entwicklung Lernender als homo ludens, gerade in Zeiten, in denen Lernende ihre Spielerfahrung vorrangig in datenökonomisch determinierten Game-Räumen machen. Roland Poellinger, Karina Fink-Gaudernak und Mareike Post berichteten in ihrem Beitrag über die Münchner Stadtbibliothek. Von Relevanz für das Thema ist ein Game-Schwerpunkt. Originell ist der Gedanke, dass Bibliotheken zusammen mit der Stadtgesellschaft gerade lokale Inhalte und kulturelle Güter digital unterstützt erschließen können.

Maya Götz berichtet aus einer Studie zur Selbstinszenierung von Mädchen auf Instagram. Die Forscher*innen bemerken eine zunehmende Normierung der Fotos: „Was bleibt, ist eine Maskerade, neoliberal und postfeministisch.“ (S. 125) Die ebenfalls in Instagram präsenten Gegeninszenierungen haben es in dieser Zielgruppe schwer (z. B. #bodypositivity). Götz kritisiert eine Medienpädagogik nach dem Motto „wir wertschätzen ihre Kreativität und verlassen uns darauf, dass Medienhandeln quasi wie von selbst Medienkompetenz“ nach sich ziehe. Sie fordert die Einbindung des Themas Identität, das Erlernen psychologischer Reflexions- und Bewältigungsstrategien und das Thematisieren der realen Vielfalt von Schönheits- und Körperbildern.

Kerstin Heinemann stellt Fragen an die Digitalisierung aus christlich-theologischer Perspektive.

Im Beitrag von Christopher Bechtold, Björn Friedrich, Markus Gerstmann und Gerda Sieben ist ihre aus der Praxis kommende Einschätzung der digitalen Kompetenz Jugendlicher hervorzuheben. Jugendliche wünschten mehr Unterstützung, „die komplexe Welt hinter der Oberfläche zu verstehen“, wenn ihnen bewusst wird, wie Datenfluss und Datenanalyse ihre kulturelle Praxis beeinflusse. Martina Schuegraf liefert einen Beitrag über Hochschulen der Zukunft und hofft wohl, dass die Digitalisierung die Strukturen höherer Bildung aufbrechen möge.

Franz Josef Röll schließlich, obwohl im Sammelband weit vorne, wird hier am Ende besprochen, weil er den Beitrag beisteuert, der das Gerüst für eine transformative Medienpädagogik anbietet. Er leitet aus der zu erwartenden Algorithmisierung unserer Gesellschaft und der Verschiebung eines anthropozentrischen Weltbildes hin zu einer objektorientierten Onthologie die Fähigkeiten ab, die Menschen auszeichnen und in der Transformation benötigen. Diese ähneln ähnlichen Ansätzen von transformativen Kompetenzen, wie etwa den transformative competencies der OECD. Sein Lernkonzept ist transversales Lernen (nach Welsch): „Transversales Lernen bedeutet eine allgemeine Denkund Gestaltungsform, die Befähigung zum interdisziplinären, bereichsübergreifenden Denken, bei dem sowohl multioptionales, polykontextuales, transmediales und holistisches als auch strukturell vernetztes Denken gefördert wird.“ (S. 27) (Medien)pädagoginnen sollen sich als „Navigatorinnen“ in einem stark von Lernenden gesteuerten Lernprozess und als Mit-Lernende begreifen. In Konsequenz lautet der Ansatz: Bildung der Navigation. In Anerkennung, dass digital und analog nicht binär zueinanderstehen, sondern sich durchdringende Formen sind, spricht Röll konsequenterweise für hybride Lernräume: Third spaces, die eine Schnittstelle schaffen und Menschen als vernetzte Wesen ernst nehmen, indem sie ihnen Lernnetzwerke eröffnen.

Der Band benennt einige Ansatzpunkte für die Medienpädagogik. Das Lernen über KI, die Prozesse unter der Oberfläche der Hardware oder die speziellen (gemeinwohlorientierten wie kommerziellen) Wertschöpfungslogiken hinter einer KI verlangen mehr Expertise, wie auch Bewusstsein von Medienpädagog*innen für den Unterschied zwischen kritischer Analyse und analytisch verpacktem
Werturteil. Inszenierung, Messen und das digitale Selbst müssen in kompetenzorientierte Lernprozesse über das Digitale integriert werden – sie betreffen fast alle Menschen. Eine auf “play” und Erforschung aufbauende Pädagogik des digitalen Spielens kann Mechanismen des angewandten Behaviorismus in und außerhalb des Game-Kontextes sichtbar machen. Die Auseinandersetzung mit Bildern der Digitalisierung hat ein größeres Potenzial als uns nur emotional anzuregen oder abzuschrecken. Innovative Lernorte sind die, die analog und digital verknüpfen, in denen Digitalisierung einen sozialen Mehrwert ermöglicht und den Lernprozess bereichert. NEZ