Wir erleben auch in EU-Europa zunehmend aggressive und offensive Maßnahmen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen (NGOs), darunter gerade auch jene der politischen Bildung und der non-formalen außerschulischen Bildung. Die Zeiten, in denen die Öffentlichkeit mit dem Begriff „Zivilgesellschaft“ überwiegend Positives verband, sind sowieso längst vorbei. Die Diskreditierungskampagnen von Rechtsaußen haben Spuren hinterlassen.
Paradoxerweise können wir gerade, weil wir anerkennen, dass die Zivilgesellschaft vielfältig und pluralistisch ist, nun auch deutlicher erkennen, wie auch aus ihr heraus das Konzept demokratischer Zivilgesellschaft in Frage gestellt wird. Im Verein mit Politiker*innen, religiösen Führungspersonen, Medienakteur*innen befördern auch NGOs einen gesellschaftlichen Wandel weg von der liberalen Demokratie, inklusive der Schwächung individueller Rechte, des Pluralismus, von Repräsentation und von Partizipation. Wie eine Kollegin aus einem betroffenen EU-Land sagte:
“Sie kultivieren ihre Allergie gegen alles Progressive/Liberale.”
Diese koordinierte und aggressive “Wokeness-Riecherei” macht Vielen Angst. Sie führt so auch ohne weitere Maßnahmen von oben zu zivilgesellschaftlicher Selbstzensur, insbesondere bei organisatorisch schwachen Gruppen und denen, die Demokratie- und Menschenrechtbildung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Einige kapitulieren still vor den Polarisierungsunternehmern auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene im eigenen Umfeld. Über solche allgemeinen Versuche hinaus, den Ruf von gemeinnützigen Einrichtungen und der Zivilgesellschaft zu untergraben, beeinträchtigen zunehmend administrative und politische Maßnahmen von oben die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft in Europa. Hier seien einige exemplarisch beschrieben:
Angebliche politische Wettbewerbsverzerrung: Politik und Staat verlangen, dass Akteure der Zivilgesellschaft sich politisch neutral verhalten sollten – weder mit politischen Parteien “konkurrieren”, noch eine allzu laute Meinung zu gesellschaftspolitischen Themen vertreten, die als Unterstützung der Position einer Partei im politischen Wettbewerb interpetiert werden könnte. Allerdings kann genau dies ihre Rolle für eine pluralistische Öffentlichkeit sein. Außerdem erinnern zivilgeslelschaftliche Akteure die Parteien immer wieder daran, dass sie den öffentlichen Diskurs über politische Themen nicht monopolisieren dürfen. Wie die deutsche Verfassung schreibt – “Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit” – also mit anderen zusammen.
Der Staat kann NGOs mit übermäßiger Bürokratie und widersprüchlichen Verpflichtungen belasten und sie so behindern. In einigen Ländern sind die Rechenschaftspflichten für NGOs komplizierter als die für kleine Unternehmen.
Parteien und Abgeordnete können das Mittel der parlamentarischen Anfrage an die Regierung nutzen, um auf bestimmte NGOs zu “zeigen” und sie zu skandalisieren. Aus der Frage, welche NGOs staatliche Mittel zur Sexualaufklärung bekommen haben, wird dann schnell ein durch die Unterstützernetzwerke dieser anfragenden Politiker*innen ausgelöster veritabler Sturm in sozialen Medien à la – das sind die Organisationen, die den Genderwahnsinn auf Steuerzahlerkosten verbreiten. Auch Behörden fragen dann noch einmal nach, bitten um Stellungnahmen etc. Initiativen und kleine Organisationen werden so schnell in einen bürokratischen Rechtfertigungszwang getrieben und mit Negativ-PR überfordert.
Viele Dinge lassen sich in veränderten Regeln und Ausführungsverordnungen verändern. So könnten autoritäre Parteien und Bürokrat*innen leicht die Finanzierungsregeln oder Förderbedingungen oder Wettbewerbsverfahren ändern, ohne auf nennenswerte Checks und Balances zu treffen, wie sie der parlamentarische Gesetzgebungsprozess darstellt.
Neutralitätsfiktion: Ein Einwurf ist, dass, wenn der Staat „neutral“ sein soll, müsse dies für Beamte, öffentliche Aktivitäten und auch Empfänger staatlicher Fördermittel oder staatlich gewährter Privilegien (wie Steuerbefreiungen) gelten. NGOs werden so zu ausführenden Beamten. Die vorherrschende Rechtsauffassung ist jedoch anders: NGOs haben einen bestimmten Zweck und eine bestimmte Position, die sie legitimerweise öffentlich vertreten. Wenn sie auch für einen bestimmten Zweck staatlich finanziert werden, können und sollen sie ihre Positionen nicht verleugnen. Im Gegenteil ist der Staat darauf angewiesen, dass die Vielfalt in der Zivilgesellschaft sich entfalten kann. Wenn man von Zivilgesellschaft Loyalität verlangen kann, dann vor allem zu den demokratischen Grundprinzipien und Grundrechten.
Staatliche Regeln sind nicht immer angemessen und realistisch. Beispiele hierfür sind: Manchmal müssen Nichtregierungsorganisationen formell unterschreiben, dass sie die öffentlichen Mittel nicht zur Unterstützung von „Extremismus“ verwenden, obwohl es für sie unmöglich ist, zu garantieren, dass nicht auch Extremisten an offenen Veranstaltungen teilnehmen. Auch die Definition des Begriffs „Extremist“ ist umstritten. Zudem entsprechen die Kategorien für Steuerbefreiungen oder-ermäßigungen möglicherweise nicht den gesellschaftlichen Entwicklungen. In Deutschland beispielsweise gelten kulturelle und bildungspolitische Zwecke als legitim, die Unterstützung des gesellschaftspolitischen zivilgesellschaftlichen Engagements hingegen nicht. Die Regeln folgen also einem eher traditionellen Demokratiemodell.
Ein weiteres Beispiel ist die pervertierte Anwendung von Rechenschaftspflicht: „Transparenz“regeln können so gestaltet sein, dass sie zur öffentlichen Bloßstellung dienen: Etwa, wenn NGOs und ihre Mitarbeiter als „ausländische Agenten“ bezeichnet werden, sobald sie einen Teil ihrer Einnahmen aus europäischen und internationalen Quellen beziehen. In der Slowakei gilt das etwa für alle, die jährlich mehr als 5.000 Euro aus grenzüberschreitenden Quellen, einschließlich der EU, einnehmen.
Entzug finanzieller Privilegien: In mehreren Ländern kann ein bestimmter Prozentsatz der Einkommenssteuer an NGOs abgeführt werden, in Polen zum Beispiel 1,5 %. Für viele NGOs ist dies eine grundlegende Einnahmequelle. In anderen Ländern wie in Deutschland gibt es Steuerbefreiungen und Regeln zur Abzugsfähigkeit von Spenden an staatlich anerkannte Organisationen und Parteien.
Einschränkungen des Handlungsspielraums von NGOs im Interesse des Jugendschutzes, etwa, da sie Kinder mit “kontroversen” Themen wie Sexualaufklärung und alternative Geschlechtermodelle verstören würden. Ihr Ausschluss aus Schulen beispielsweise wird durch eine 180-Grad-Biegung des Jugendschutzgedankens begründet. Schließlich waren es ursprünglich Minderheitengruppen aus der Zivilgesellschaft, die junge Menschen, die sich den kulturellen und religiösen Erwartungen ihres Umfelds gerade nicht zugehörig fühlen, durch Bildungsangebote unterstützten, oder die tabubelastete Themen als erste pädagogisch aufgriffen. In Deutschland kennen wir die Variante, dass aus dem Professionsstandard “Überwältigungsverbot” ein Zwang zu weltanschaulicher Neutralität von Unterricht und Lernangeboten abgeleitet wird. Man muss den Beutelsbacher Konsens der politischen Bildung schon sehr falsch lesen: Nein, das ist weder pädagogisch gut, noch rechtlich gedeckt.
Spannungen können auch entstehen, wenn ein Thema politisiert wird (nicht unbedingt durch eine NGO selbst, z. B. Seenotrettung oder Klimawandel). Dann ist es leicht, einer NGO politische Einmischung vorzuwerfen.
Diese Aufzählung kann nicht den Anspruch haben, eine Typologie der Neutralisieurng unabhängiger Organisationen zu entwickeln. Sie weist uns auf eine der Kampfzonen der nächsten Jahre hin. Demokratieskeptische Kulturkämpfe sind nur dann zu gewinnen, wenn die mehrheitliche demokratische Zivilgesellschaft geschwächt, gedimmt und behindert wird.
Demokratische Resilienz zu erhöhen, heißt in diesem Zusammenhang die Stärkung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Härtung von fairen Regeln und Verfahren und vor allem rechtlicher Schutz. Allen politisch Verantwortlichen muss klar sein, dass sie mit dem Feuer spielen, wenn sie die Anti-NGO-Narrative aus dem rechtsextremen und christlich-fundamentalistischen Spektrum übernehmen. Wir in Deutschland sind gut beraten, in das Laboratorium des Autoritarismus zu schauen, wie es sich über unseren Tellerrand hinaus aktuell entwickelt. Einiges wird zu uns kommen.
