Illustration: Felix Kumpfe/Studio Hurra
Rezension für: Außerschulische Bildung – Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung
Bücher über die digitale Transformation zeigen oft Extremes (Biohacking, Transhumanismus), Dystopien (Post-Privacy, Pflegeroboter) oder Magie (AI, Algorithmen, Echtzeitdatenströme), garniert mit Bildern von Hackern, Nullen und Einsen, weißen Träumen in aufgeräumten Räumen, Köpfen mit Drähten. Am Ende staunen alle und hoffen, die hellsten Kerzen Kaliforniens mögen mit allem zurechtkommen.
Digitalisierungsdebatten kranken deshalb daran, dass zu viele sie für „zu komplex“ halten. Shushana Zuboff will Mitsprachefähigkeit ermöglichen und mit ihrem Buch dazu beitragen, dass ihre Leser*innen den Wald sehen mögen und nicht nur lauter sie umgebende Bäume, oder wie sie sagt, über die „Puppenspieler“ hinter den Spielarten der Digitalisierung zu sprechen lernen und nicht über die Puppe.
„Im Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ ist eine Mischung aus recht verständlichen politisch-ökonomischer Betrachtungen, einer Studie mit Erkenntnissen aus Interviews mit 52 Datenwissenschaftler*innen aus 19 Unternehmen des Silicon Valley und einer Anklageschrift. Zuboffs spätes Werk bezieht sich im Titel auf ihr 1988 veröffentlichtes „In the age of the smart machine – the future of work and power“, mit dem ihr eine der ersten seriösen Bestandsaufnahmen vom Wendepunkt von analoger zu computerisierter Arbeit gelang. Ihr Fokus liegt heute auf dem schwarzen Schaf des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, diese „sich rasant fortpflanzende systemische und innerlich konsistente neue Variante des Informationskapitalismus“ (S. 73). 2015 beschrieb sie ihren Untersuchungsgegenstand folgendermaßen: „It is a ubiquitous networked institutional regime that records, modifies, and commodifies everyday experience from toasters to bodies, communication to thought, all with a view to establishing new pathways to monetization and profit.“ (Zuboff: Big other: surveillance capitalism and the prospects of an information civilization. In: Journal of Information Technology 2015/30, 75–89, hier S. 81).
Bedrängt von Investoren habe der Überwachungskapitalismus-Pionier Google um 2004 erkannt, dass nicht die Suchergebnisse, sondern die Suchanfragen und die mit ihnen verbundenen Daten das interessante extrahierbare Material seien („Extraktionsimperativ“). Wenn man dieses speichert und aufbereitet, wird es in verschiedenen Weisen veredelbar. Suchanfragen können in Echtzeit über allgemeine Trends informieren, aber auch präzise Auskünfte über die Suchenden geben. Wer weiß, was sie noch gesucht haben, ob sie zu einer klar beschreibbaren Gruppe mit ähnlichen Merkmalen gehören und wie groß und wichtig diese Gruppe ist, kann von der Beschreibung von Trends zur Erstellung personalisierter Prognosen kommen. Verknüpft man darüber hinaus eine Vielzahl von Datenquellen (z. B. Browser, Smartwatches, Haushaltsverbrauchsdaten, Apps für ganz verschiedene Zwecke) und hat man eine Tiefe von Daten (etwa Körperdaten, Suchgeschichte, Email-Inhalte, Bewegungsdaten), lassen sich Verhaltensvorhersagen modellieren („Rendition“) oder mit den Tricks und Mitteln aus dem verhaltenspsychologischen Arsenal (wie nudging, gamification oder Konditionierung) lässt sich sogar Verhalten direkt beeinflussen (Ausübung „instrumentärer Macht“). Einen Kauf zur rechten Zeit oder eine Reaktion in einem sozialen Netzwerk anregen, eine Wahl begünstigen oder vertragskonformes Verhalten durchsetzen.
Im Kern nutze der Überwachungskapitalismus Googles und seiner Follower „einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten“ (S. 22). Die erhobenen Daten dienten nur zum Teil dem konkreten Zweck eines angebotenen Dienstes. Der weitaus größere Teil, der„proprietäre Verhaltensüberschuss“ diene als (unternehmenseigenes, deshalb „proprietäres“) Rohmaterial für den eigentlichen Zweck, Verhalten als Bürger*in, Nutzer*in, Konsument*in oder Arbeitnehmer*in vorhersagen und kontrollieren. Dahinter stecke kein ideologisches Interesse, die Ideologie sei im Gegenteil „radikale Indifferenz“ gegenüber politischen und sozialen Positionen (S. 235).
Mit dem ubiquitären Internet of Everything würde die nicht greifbare Macht sich nicht auf den in Computern gespeicherten maschinellen Text und den digitalen Raum beschränken, sondern die ganze soziale Realität durchdringen.
Angesichts massenhafter und geteilter Informationshäppchen von und über Nutzer*innen (dem „Schattentext“), stellen sich Fragen. Nutzer*innen seien weder Kunden noch wirkliche Nutzer sondern „Objekte, aus denen Google unrechtlich den Rohstoff für seine Vorhersagefabriken bezieht“ (S. 117). Allgemein seien wir einer „Anderisierung“ unterzogen, wertvoll an uns sei, was quantifizierbar ist und uns zum Teil einer Datenherde macht (S. 424). „Big Other“ der große Gleichmacher, der für das scheinbar irrationale Verhalten, das wir bislang für den freien Willen hielten, nur ein Kopfschütteln übrighat, oder dieses im Kundenauftrag zu bändigen sucht.
Was hält uns von der Entwicklung von Alternativen ab? Dort, wo Zuboff aufhört, fängt die Aufgabe der politischen Bildung an. Ihr Buch ist eine gute Grundlage.
- Erschienen in: Außerschulische Bildung 3/2020 – Die Klimakrise und die gesellschaftlichen Folgen, Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten.