Beitrag: Europäische Digitalpolitik. Strategie, Rahmungen und Projekte der EU

Erschienen in: Außerschulische Bildung 3-2024
Thema im Fokus: Künstliche Intelligenz und politische Bildung
Online: https://fachzeitschrift.adb.de/ausgabe/kuenstliche-intelligenz/

Die großen Linien der Digitalpolitik werden in Europa gezogen, weshalb ihr europäischer Kontext zum Thema einer politischen Bildung des Digitalen werden muss. Auch für die deutsche Digitalpolitik gilt: Wer sie verstehen und pädagogisch begleiten möchte, sollte die europäischen Ziele und Entwicklungen verstehen und das Handeln deutscher Politik und deutscher Akteur*innen in Deutschland, Brüssel und Straßburg. Der Beitrag umreißt die europäische Strategie, ihren Rahmen, der sich aus den europäischen Verträgen ergibt, und darauf aufbauend einige wesentliche politische Vorhaben. Er fokussiert dabei auf die Europäische Union. Eine Betrachtung der digitalpolitischen Projekte im Europarat verdiente zwar eine ähnliche Beachtung, würde aber den vorgesehenen Rahmen sprengen. Von Nils-Eyk Zimmermann

Die digitale Dekade

Im Politikprogramm „für die digitale Dekade“ der EU werden die Zielstellungen von Digitalpolitik bis 2023 im Sinne der „Stärkung der Handlungsfähigkeit der Bürger und der Unternehmen durch den digitalen Wandel“ formuliert (EU 2022/2481). 1 Es gehe dabei um die

„Förderung einer auf den Menschen ausgerichteten, auf Grundrechten beruhenden, inklusiven, transparenten und offenen digitalen Umgebung, in der die Grundsätze, Rechte und Werte der Union durch sichere und interoperable digitale Technik und digitale Dienste gewahrt und gestärkt werden, die für alle überall in der Union zugänglich sind.“

Im Einzelnen wird dies dann näher umrissen:

Bildung: Förderung der „Entwicklung grundlegender und fortgeschrittener digitaler Kompetenzen und Qualifikationen, einschließlich beruflicher Aus- und Weiterbildung sowie lebensbegleitendem Lernen“ mit dem Ziel der „Stärkung der kollektiven Resilienz der Mitgliedstaaten und Überwindung der digitalen Kluft, Erreichung eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses und einer geografischen Ausgewogenheit“.

Digitale Souveränität als wichtiges strategisches Ziel adressiert die globale Unabhängigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der EU „insbesondere durch sichere und zugängliche digitale und Dateninfrastrukturen, die große Datenmengen effizient speichern, übertragen und verarbeiten können“. Dabei wird die Transformation der Wirtschaft „insbesondere von KMU, und der Resilienz der Wertschöpfungsketten“ und die Stärkung von Start-ups hervorgehoben.

Datennutzung und Forcierung von Plattformisierung: Daten werden als entscheidende Stellschraube gesehen: „Einführung und Nutzung digitaler Fähigkeiten, die die geografische digitale Kluft verringern und den Zugang zu digitalen Technologien und Daten unter offenen, barrierefreien und fairen Bedingungen gewähren, um einen hohen Grad an digitaler Intensität und Innovation in den Unternehmen der Union, insbesondere in Start-ups und KMU, zu erreichen.“ In der Europäischen Datenstrategie wird dies auf den Punkt gebracht: „Um Europas Potenzial freizusetzen, müssen wir unseren eigenen, europäischen Weg finden, indem wir den Austausch und die breite Nutzung von Daten kanalisieren und gleichzeitig hohe Datenschutz-, Sicherheits- und Ethik-Standards wahren.“ (EC COM 2020/66 final)

Forschung: Bei der Forschungsförderung geht es um den Aufbau leistungsfähiger Infrastrukturen und von digitaler Hochtechnologie innerhalb der EU, die „hohe Sicherheits- und Datenschutzstandards“ erfüllen sollen.

Teilhabe und Staat: Teilhabe wird vor allem als Zugänglichkeit verstanden – „digitale Teilhabe am demokratischen Leben für alle“. Bei der Digitalisierung im öffentlichen Sektor liegt der Fokus auf der breiten Zugänglichkeit öffentlicher Dienstleistungen sowie der Optimierung der „Gesundheits- und Pflegedienste“ auch in ländlichen Gebieten.

Nachhaltigkeit: Dies meint „digitale Infrastrukturen und Technologien einschließlich ihrer Lieferketten nachhaltiger, resilienter und energie- und ressourceneffizienter“ umbauen, als Beitrag zum von der Kommission 2019 ausgerufenen Europäischen Grünen Deal (der die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % senken möchte) (EC COM 2019/640 final).

Public Private Partnership: „Stärkung von Synergien zwischen privaten und öffentlichen Investitionen und der Verwendung von Unionsmitteln und nationalen Mitteln, und durch die Entwicklung vorhersehbarer Regulierungs- und Unterstützungsansätze, die auch die regionale und die lokale Ebene einbeziehen.“

Sicherheit: Insbesondere die „Widerstandsfähigkeit gegenüber Cyberangriffen“ und der „Ausbau der Anstrengungen öffentlicher und privater Organisationen“ werden hier prioritär erwähnt.

Ziele in Bezug auf die Demokratie liefern insofern den regulatorischen Kontext, als sie zwar in den vorausgestellten Erwägungen formuliert werden, nicht in den Zieldefinitionen selbst. Hier werden beispielsweise erwähnt: Beteiligung aller „interessierten Kreise“, „Schwerpunkt auf den Bereich Bildung“ und Qualifizierung von Fachkräften, sowie, dass „Verbesserungen in Bezug auf die Demokratie, die verantwortungsvolle Staatsführung, die soziale Inklusion und effizientere öffentliche Dienste“ mit dem digitalen Wandel einhergehen müssten.

Diese Aspekte legitimieren die konkreten Regulierungsvorhaben, über die im Folgenden gesprochen wird. Auch die „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ (EU 2023/C 23/01) fasst deklamatorisch die Vorstellungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zum Wesen der digitalen Transformation und ihren Zielen zusammen.

Demokratie – Wirtschaft – Bildung

Die vorgestellten strategischen Aspekte beschreiben die größere Vision, die neben den beschriebenen Maßnahmen und Teilzielen selbst zum Gegenstand kritischer politischer Bildung werden sollte und an der politische Bildung reale Entwicklungen und Umsetzungen der Digitalisierung messen kann: Ursachen, Akteurskonstellationen und gesellschaftliche Verhältnisse, aus denen Digitalpolitik entwickelt wird, ihre (ideologischen) Rechtfertigungen, ihre Auswirkungen auf Menschen und Gruppen sowie, wie die Pfade der digitalen Transformation mitgestaltet und verändert werden können (vgl. Lösch/Eis 2024, S. 40).

Die vorangestellte Vision ist wiederum in den größeren Kontext der europäischen Verträge eingebettet. Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV; EU 2007) wird nach ausschließlichen, geteilten und unterstützenden Zuständigkeiten der EU differenziert. Weil Wettbewerbsregeln und Handelspolitik zum ausschließlichen Bereich gehören (Art. 3 AEUV) und weitere wirtschaftsrelevante Aspekte zu den geteilten Zuständigkeiten (Art 4 AEUV) – wie der Binnenmarkt, Sozialpolitik (bezogen etwa auf Lebensbedingungen, Förderung von Beschäftigung oder Arbeitsbedingungen), Verbraucherschutz, transeuropäische Netze, wirtschaftlicher/sozialer/territorialer Zusammenhalt –, ist europäische Digitalpolitik als ein stark von Überlegungen des Marktes getriebenes Projekt zu verstehen.

Lediglich unterstützend ist die EU bei der allgemeinen und beruflichen Bildung, Jugend und Sport, Kultur und im Gesundheitswesen tätig. Sie kann hier Vorschläge und Anreize zur Verbesserung geben. In diesem Sinne ist auch eine politische Bildung des Digitalen formal nicht im Fokus der EU. Sie kann sich jedoch Spielräume eröffnen, indem sie sich auf EU-Programme und Ziele beruft, wenn es ihr um die Förderung digitaler Kompetenzen, bei der Befähigung von Bürger*innen, ihre Grundrechte wahrzunehmen, oder bei der Begleitung digitalpolitischer Vorhaben geht (politische Bildung als Akteurin zur Beteiligung der Bürger*innen, als Ort für Information und Urteilsbildung …).

Zudem ergeben sich aus dem EU-Politikprogramm für die Digitale Dekade 2030 auch Ansprüche der politischen Bildung und der Zivilgesellschaft an die Bundesregierung, sie in ihrer Eigenschaft als relevante Stakeholder besser einzubeziehen. Dies gilt dann auch für die EU-Bildungspolitiken: Der Aktionsplan digitale Bildung (EC COM/2020/624 final) formuliert zum Beispiel den von den Mitgliedsstaaten umzusetzenden Anspruch zur Förderung digitaler Kompetenz für den Wandel insbesondere auch bei Fachkräften oder dass der digitale Ausbau der Bildung vorankomme (und übrigens auch der Aufbau nationaler Bildungsplattformen). Hier hat politische Bildung prinzipiell etwas beizutragen, das berufliche und allgemeine Bildung nicht leisten. Sie sollte sich mit Verweis darauf deutlicher Gehör in Berlin und Brüssel verschaffen.

Während Bildung also vor allem Sache der Mitgliedsstaaten ist, hat die EU in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte eine wichtigere Rolle (geteilte Zuständigkeit). Vor allem wird im Lissabon-Vertrag (EU EUV/2016) in Artikel 2 auf die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ referenziert und in Artikel 3 die EU als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ definiert. In Artikel 6 (1) des Lissabon-Vertrags wird auch die Europäische Grundrechtecharta als bindend anerkannt und der Beitritt der EU zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (des Europarats) erklärt.

Somit ist europäische Digitalpolitik an Grundrechte und Menschenrechte gebunden. Jedoch im Gegensatz zum Europarat, dessen oberste Zielebene bei der Entwicklung von Instrumenten zur Steuerung und Rahmung von Digitalpolitik die Menschenrechte sind, gewichtet die EU aufgrund ihrer Verfasstheit und ihres begrenzten Auftrags anders.

Diese Rahmensetzungen in Betracht ziehend kann man europäische Digitalpolitik dennoch in ihrer systemischen Ambition würdigen. Sie ordnet digitalpolitische Vorhaben in eine größere Strategie ein, die auch die Beziehungen der EU zu anderen globalen Akteur*innen einbezieht (insbesondere in Abgrenzung von den USA und China). Sie hat auch erkannt, dass ein zukunftsfähiges Modell generell nur für und mit Bürger*innen funktionieren kann, also keine rein technologieoptimistische Strategie sein kann, die die bei den Bevölkerungen persistente Kritik und das Unbehagen politisch und industriepolitisch auslässt.

Seit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) geht vor allem von Brüssel das Signal aus: Wir ergeben uns nicht der instrumentellen Logik des Datenkapitalismus, sondern arbeiten an der Wiedererlangung politischer Lenkungsfähigkeit. Die Digitalpolitik zielt aber im Kern auf einen digitalen Markt und auf den Aufbau europäischer Wettbewerbsfähigkeit. Erläutert wird dies auch in der europäischen Industriestrategie (EC COM/2020/102 final).

Besonders die Existenz und intensive Nutzung von Daten sind zentrale Stellschrauben der europäischen Digitalvisionen. Die gesondert formulierte Europäische Datenstrategie (EC COM 2020/66 final) erklärt, dass der Anteil der EU an der globalen Datenwirtschaft in Zukunft mindestens ihrer Wirtschaftskraft entsprechen solle. Sie sieht Daten als den entscheidenden Treibstoff („Der eigentliche Wert von Daten liegt in ihrer Nutzung und Weiterverwendung“; EC COM 2020/66 final) und versucht (zuletzt mit dem Data Act; EU 2023/2854) die Begierde der Digitalwirtschaft nach Daten in Balance mit Grundrechten auszutarieren. Am Europäischen Raum für Gesundheitsdaten kann man dies veranschaulichen: Einerseits soll die Weiterverwendung von Gesundheitsdaten für Wirtschaft und Forschung forciert werden, andererseits Einzelnen (auch) Kontrolle über ihre Daten ermöglicht werden.

In den nächsten Abschnitten werden einige europäische digitalpolitische Vorhaben skizziert.

Weiter:

  • Digital Services Act (DSA)
  • Digital Markets Act (DMA)
  • AI Act
  • Neue Ökodesign-Regeln
  • Europäische-Digitale-Identität (EUDI)
  • Digitaler Euro, bargeldloses Bezahlen
  • Chatkontrolle – Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern
  • Schlussfolgerungen