Annäherung an Ansatz, Merkmale und Elemente aus der Perspektive der politischen Bildung.
Erschienen in: politischbilden.de im 2024 veröffentlichten Modul Antisemitismus.
Bildung zu Antisemitismus findet in unterschiedlichen Lernräumen und unter verschiedenen Zielstellungen statt, die Barbara Schäuble (2013, S. 10 ff.) zur besseren pädagogischen Einordnung differenziert zwischen:
„Antisemitismuskritische Bildung“ ist besonders in der hier als Bildung „wegen Antisemitismus“ beschriebenen Kategorie präsent, die „Antisemitismus nicht ins Zentrum [stellt], sondern damit verbundene Auffassungen und Einstellungen“ (Schäuble, 2013). Gleichzeitig findet er als konzeptionelle und Reflexionsdimension zunehmend den Weg in Angebote, die sich (eher) in den anderen Kategorien einordnen lassen. In der Praxis überlappen sich die verschiedenen Kategorien und sind nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen. Um zu etwas mehr konzeptioneller Klarheit beizutragen, skizziert dieser Beitrag den Ansatz antisemitismuskritischer Bildung, sowie insbesondere die für ihre Praxis besonders relevanten Elemente.
Antisemitismuskritische politische Bildung
Das Attribut „kritisch“ in „antisemitismuskritisch“ drückt aus, dass über die Vermittlung einfachen Wissens zu Erscheinungsformen hinaus die gesellschaftlichen Funktionen und strukturellen Voraussetzungen sowie Wirkungen von Antisemitismus thematisiert werden sollen. Wenn der Ansatz der kritischen politischen politischen Bildung so auf Antisemitismus angewendet wird, dann hinterfragt und untersucht kritische Bildung erstens die politisch und aus Herrschaft resultierenden Ursachen des Antisemitismus, zweitens, seine Begründungen sowie, drittens, seine Auswirkungen auf Betroffene und auf die Gesamtgesellschaft. Viertens zielt antisemitismuskritische Bildung auf die strukturrelevanten und individuellen Ansätze zur Veränderung hin zu einer weniger antisemitischen und menschenfeindlichen Gesellschaft (vgl. Lösch & Eis, 2024, S. 40). Antisemitismuskritische Bildung ist reflexiv angelegt, was Selbstreflexion von Bildner_innen einschließt. Sie möchte neben Sachkompetenz und Fachwissen gerade auch politische Urteilskompetenz, Handlungskompetenz und Methodenkompetenz vermitteln. Im Zusammenspiel dieser Aspekte wird antisemitismusbezogene Bildung zu einem Ansatz politischer Bildung.
Nähe und Differenz zu rassismuskritischer Bildung
„Antisemitismuskritisch“ referiert einerseits auf die Beziehung antisemitismuskritischer Bildung zu rassismuskritischer Bildung, die sich aus der Nähe zwischen Antisemitismus und Rassismus ergibt und sieht demnach Antisemitismus als eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Gleichzeitig muss sie sich, um den Besonderheiten des Antisemitismus und den Vorurteilskonstruktionen gegen Jüdinnen_Juden gerecht zu werden, seinen speziellen Konstrukten, Begründungen und Akteur_innen widmen. Zu ihnen gehört etwa, dass „Jüdinnen_Juden gleichzeitig eine besondere Macht und besonderer Einfluss in den unterschiedlichsten Bereichen zugeschrieben wird“ oder dass Antisemitismus über Diskriminierung hinaus „ein Welterklärungssystem an[bietet], in dem Jüdinnen_Juden als ‚Strippenzieher_innen‘ für wirtschaftliche, politische und soziale Strukturen und insbesondere für gesellschaftliche Krisen verantwortlich gemacht werden“ (Anne Frank Zentrum, 2010, S. 6).
Jüdinnen_Juden sind in der antisemitismuskritischen Bildung zentrale Subjekte. Somit ist das Ziel des Ansatzes, zur Entfaltung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in ihrer Vielfalt beizutragen
Merkmale antisemitismuskritischer Bildung nach Zenker & Siegele (2020)
Antisemitismuskritische Bildung zeigt sich insbesondere durch:
- Reflexion der Pädagog_innen über ihre eigene Involviertheit, weil Antisemitismus als strukturelles Merkmal auch ihre Haltungen, Wissen und Erfahrungen prägt
- Lebensweltlicher Ansatz: thematischer Zugang anhand der eigenen Biografie, Ortsbezüge, Reflexion über eigene Identität und Beziehungen
- Zuschreibungssensible Praxis seitens der Pädagog_innen: durch die Thematisierung von Diskriminierung oder Stereotypisierung werden diese nicht fortgeführt und auch keine neuen produziert
- Gleichzeitigkeiten erkennen und aushalten – beispielsweise von Rassismuserfahrungen und antisemitischen Einstellungen
- Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Funktionen von Antisemitismus, zum Beispiel Reduktion, Vereinfachung oder Personifizierung von gesellschaftlicher Komplexität. Funktion von Antisemitismus für Herrschaft. Reflexion über Motivationen und Bedingungen antisemitischer Argumentationsweisen
- Konfliktbereitschaft: Konflikte als Ausgangspunkt für Diskussionen nutzbar machen. Konstruktiv und nachvollziehbar Haltung beziehen, Bloßstellungen oder persönliche Abwertungen vermeiden
- Jüdinnen_Juden als Subjekte einbeziehen: Othering (also die Markierung von Jüdinnen_Juden als „anders“ oder „fremd“, mit dem Ziel, sie aus der „Wir-Gruppe“ auszuschließen) problematisieren.
- Oberste Priorität ist der Schutz von Juden_Jüdinnen gegenüber antisemitischen Ressentiments und die freie Entfaltung jüdischer Identität – unabhängig davon, ob tatsächlich jüdische Teilnehmende anwesend sind oder nicht
- Vervielfältigung der Zielgruppen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit: Menschen verschiedener Milieus erreichen